Ein längeres Prosastück steht zu Beginn: Hierin monologisiert ein machtbewusster Manager, ganz prototypischer Alphamann, gegenüber seinem Therapeuten über erotisches Getriebensein und reflektiert doch auch dessen diagnostischen Blick. Solch maßlose Begierden und Potenzattitüden schreibt die Autorin auch in den Kurzprosastücken und Gedichten den Männern zu. Das Ringen um Stärke und Herrschaft bewirke mangelnde Aufmerksamkeit und Empathie (nicht nur) in Mann-Frau-Beziehungen, aus Zweisamkeit werden dann genau jene nebeneinander existierenden Einsamkeiten, die Sperrer abbildet. Sprachlosigkeit und Mauern entstehen, mit den „müdigkeit in die mauern“ (46) streichelnden Männern auf der einen Seite und eine Nabelschnur aus Träumen bis ins erlösende Licht knüpfenden Frauen auf der anderen. Diese Träume lenken auch ab vom Gefühl körperlicher Unzulänglichkeit, von Alterungsprozessen oder vom männlich oktroyierten Gefühl bloß ein „überflüssiges möbelstück“ (54) zu sein, sie ermöglichen aber auch die im (Beziehungs-)Alltag fehlende Bewunderung.
Den in etlichen Bildern gezeichneten freien Fall übersetzt Seidenauer in Wünsche nach Spontaneität, die Routinen in sozialer wie auch körperlicher Interaktion zu überwinden, sich in „wilden gewässern“ (59) statt in lauer See zu verwirklichen. In solchen Skizzen der Emanzipation und Befreiung schwingt ein feministischer Duktus mit, der hier mit Skepsis und Milde grundiert ist: Das Erhoffte wird zugleich gefürchtet, das Ersehnte bloß imaginiert. Seidenauers Miniaturen und Gedichte steuern so häufig auf eine Klimax zu, die sich als Antiklimax in der Möglichkeitsform entpuppt, etwa wenn entschlossene Lippen eine Geschichte erzählen möchten, „wäre da ein ohr. wäre da eine antwort. wären da augen.“ (68) Und die Augen stellen in diesen Texten, die bisweilen von Chiffren und Codes durchsetzt sind, das Hauptsinnesorgan dar. Als Metapher des weiblichen Geschlechts von Sigmund Freud oder Arno Schmidt eingesetzt, wirft es hier ängstliche wie festliche, zärtliche wie rationale Blicke, das Sehen an sich kann Täuschung oder Enttäuschung erzeugen.
Diese Enttäuschung strichliert die Autorin in vielen Facetten: Etwa wenn die Heimat nach der sonntäglichen Zelebrierung werktags hart oder gar nach Fremde schmeckt und vergessen wird, oder aus der Reinheit der Jugend die Schatten des Alters wurden. Wenn es Schattengeschäfte und -kämpfe gibt, nicht nur Gebrechliche von Blindheit geschlagen sind oder sich nur noch die Schimären umarmen. Dann werden auch neue Gebote aufgestellt: „du sollst nicht hinsehen. Du sollst schweigen.“ (53) Und Hoffnung? Ja, die gibt es, tüpfchenweise: Gudrun Seidenauer zeigt sie im Beharren auf der Liebe als Beweggrund des Lebens, der über befreiende, zumindest erträumte Taten vom Schutt der Routinen befreit wird. Phantasie und Sprachpoesie helfen dabei.