#Prosa

Klingen

Corinna Soria

// Rezension von Martin Reiterer

Die Figuren in Corinna Sorias Erzählungen sind Suchende und Versuchende, sie streben auf etwas hin, unbeirrt halten sie an etwas fest, auch wenn ihnen das, woran sie so fest glauben, im nächsten Augenblick dahinschwindet. Sie hoffen, aber zugleich wissen sie um die Ungeschütztheit ihrer Hoffnungen. Dieses Wagnis einzugehen sind sie bereit. Es ist das Wagnis, das man eingehen muß, um über den Schatten zu springen, den eigenen.

Ein verbindender Erfahrungshintergrund zieht sich quer durch die Erzählungen. Ungeborgenheit, Einsamkeit, Erniedrigungen und Mißachtungen kennen die Hauptgestalten der Erzählungen als schmerzvolle Erfahrungen, das Gefühl der Enge und des Ungenügens lenkt den Blick zurück. Die Kindheiten, denen die HeldInnen entwachsen sind, haben etwas hinterlassen: „Es sei etwas geblieben aus der Kindheit“, sagt Joy in „The original original bliss please“, „sie habe Alpträume“ (153). Auch zu Beginn der ersten Erzählung „Winter“ heißt es: „Er war aus der Kindheit und Jugend hinausgetreten wie aus einem zu engen Raum […].“ (7) In derselben Erzählung wird der Freund des Er-Erzählers, der Züge des Ich-Erzählers in Thomas Bernhards autobiographischen Texten trägt, diesem eines Nachts anvertrauen, „daß er die Kinderjahre in einem Wiener Keller überlebt hatte. Ein Nachbar und Musiker-Kollege der Mutter hatte ihn verborgen und am Leben erhalten. Unsäglich war es gewesen, dort unten zu bleiben, er hatte gemeint, in der hermetischen Dunkelheit ersticken zu müssen, die Zeit war übergegangen in ein Kontinuum der verheerenden Unendlichkeit, Hölle ohne Ende […].“ (12) Und in „Klingen“ fährt es der Sie-Erzählerin, am Fenster stehend, durch den Kopf: „Was waren das für Menschen, die sich dort auf den Straßen bewegten, die meisten schleppten ihre Kindheiten wie Auswüchse mit sich herum, kaum einer, der nicht Ähnliches zu berichten gehabt hätte aus seinen früheren Zeiten, dem ihren Ähnliches. Schwestern- und Bruderschaft der mißglückten Experimente, der Versuchskaninchen, der gerissenen Präservative und Unfälle des Betriebssystems.“ (124)

Der Schrecken der Kinderjahre ist noch nicht zu Ende. Und dies nicht allein durch seine Nachwirkungen. Die Gewalt, für welche die Kindheit sinnbildhaft steht, ist reproduzierbar. In der Erzählung „Klingen“ macht die Erzählerin diese Erfahrung in mehrfacher Hinsicht und auf schmerzvolle Weise. Nachdem sie sich in die „Krallen“ (123) eines sogenannten Liebhabers verfangen sieht, läßt sie sich – wie ohnmächtig – der Selbstzerstörung entgegentreiben. Und dies, obwohl sie ihr Schicksal in dunkler Ahnung vorhergesehen hatte. In der Verzweiflung fügt sie sich mit „seine[n] Klingen“ (131) Verstümmelungen zu. Vor der völligen Selbstzerstörung gelingt ihr die Flucht zu ihrer Schwester in die USA. Nach einem weiteren Rückfall – ausgelöst durch TV-Übertragungen einer Exekution in den Todeszellen – durchschaut sie, angesichts der Schnitte an ihrem Körper, was mit ihr selbst geschehen war: „Die Saat der Erzeuger ist in mir aufgegangen“, (135) erklärt sie ihrer Schwester. Der Kreislauf hätte sich damit geschlossen. Die Wunden, die sie sich selbst zugefügt hatte, waren auch „blutige Zeichen für die Zerstörung, die an ihr geschah“ (136). Doch Zeichen genügten nicht, wie sie selbst erkennt, um den „Kreislauf“, den Kreislauf der Gewalt, zu durchbrechen, anstelle der Zeichen muß sie „Worte setzen“, um „der alten Saat die Nahrung zu entziehen“. (136)

Kindheit jedoch ist zugleich nicht nur jener Ort, an dem sich der unmittelbarste Eindruck des Schmerzes gebildet hatte, sondern auch der verbürgte Ort der Sehnsüchte, Träume und Ahnungen, die nun – unter anderen Bedingungen – nochmals angerufen werden. „Irgendwo mußte es etwas geben, etwas Undefinierbares, vielleicht Zartes, Schönheit, etwas, das ihren [der Erzählerin in „Klingen“] Träumen von erleuchteten Sälen, Wärme, Intimität, Nähe entsprach, ihren heimlichen Vorstellungen, die sie der ironisch-geschliffenen Indifferenz um sich niemals preisgeben würde. In ihr leuchtete etwas und ließ sich nicht abschalten, ein Leuchtfeuer ad infinitum, hoffentlich.“ (122f.)

In intensiven Bildern, eindringlichen Metaphern des Lichts und des Leuchtens tastet sich die Erzählerin an das definierbar-undefinierbar Andere heran. Mit den Ahnungen von einer anderen Wirklichkeit einher gehen die Vorstellungen von einer anderen, selbstgewählten Identität. Will sich die Erzählerin wie in „Klingen“ dieser vergewissern, so tut sie das mit Verweis auf ihre Sprache, ihre Fähigkeit, sich auszudrücken: „Sie kannte, was sie wollte, sie konnte es definieren […].“ (127) Dazu gehört auch, „daß sie heimlich malte. Das war Ernstnehmen ihrer selbst, dem entging sie nicht, das war sie, das lag ihr in der Hand, das war wie mit dem Licht, dessen optimale Leuchtkraft sie definieren konnte für ihre Bedürfnisse.“ (126) Sprechen können, Malen können, die Sprache der Musik verstehen. Immer wieder ist es das Reich der Musik, das Reich der Dichtung, die jene Gegenwelten verbürgen, in die sich die Figuren zu retten suchen. Oftmals ist diese Identitätsfindung nur im Verborgenen, „heimlich“ möglich, oder trotz einer widersprechenden Realität wie im Falle des Freundes in „Winter“, der, hätte „man ihm nicht die Kehle im Keller verschnürt“ (14), ein Bariton wäre: „Ich bin ein Bariton, sagten diese Lippen“, erinnert sich der Erzähler an seinen Freund, und: „Déjame esta voz que tengo, / Laß mir diese Stimme, die ich habe, wir kamen überein, daß Stimme dort auch für Wort steht, für das eigene Wort, das Wort, das die Identität ausdrückt, vielleicht die dichterische Identität als eigene Stimme. Deine Identität war die eines Baritons, dem die Hölle die Stimme raubte. Und dennoch bist du immer der geblieben, als der du angelegt warst. Beharrlich und trotzig ein Bariton.“ (18)

Identität, eine eigene Stimme haben hätte demnach nichts mit Harmonie zu tun. Der Er-Erzähler und Cellolehrer läßt in der gleichen Erzählung den Kindern ihre falschen Töne, in denen sich einzig „ihre schrille Wut über das Gebeugtsein“ ausdrückte, „er ließ sie ihnen, […] schlug ihnen Tonfolgen vor, die jämmerlich klangen und sie zum Lachen brachten.“ (8) Entscheidend für diese andere Form der Identität ist vor allem, das sie nicht aufgezwungen ist, daß sie den Widerspruch zuläßt.

Einer Identität im Verborgenen haftet allerdings noch immer etwas von jener Enge an, aus der herauszutreten die HeldInnen sich sehnen. Erst in Begegnungen mit anderen Menschen, in Freundschafts- und Liebesbeziehungen, erkennen die betreffenden Personen die Chance, ihrer Isolation zu entkommen. „Er spürte förmlich physischen Hunger nach menschlicher Begegnung, Hunger nach Worten, Blicken, Berührungen, nach Liebe, dieser einzig ernstzunehmenden Größe für ihn außerhalb der Musik. Und wo nicht Liebe, da jedenfalls Freundschaft.“ (9) Wonach die Figuren, wie der Cellospieler, suchen, ist eine Bestätigung außerhalb ihrer selbst, darum gehen sie Beziehungen ein und darum sind diese Begegnungen immer auch Selbstbegegnungen, Selbstspiegelungen. In einem Spannungsfeld zwischen Auflösung, Entgrenzung (in letzter Konsequenz: der „Seinslosigkeit“) und dem Wüten gegen den Tod finden sich die Gestalten erneut auf einer Grenz- und Gradwanderung.

Das Aufeinandertreffen von Menschen, die Begegnungen von Suchenden stellen die Erzählungen jeweils aus feinsinnig unterschiedlichen Blickwinkeln und wechselnden Perspektiven heraus dar. Die Erzählung „Eros“ wendet dieses Verfahren auf die Begegnungen selbst an, die in destillierter Form und in einer Art Versuchsanordnung aufeinanderfolgen. Die durchgehende kunstvolle Verflechtung der Erzählhandlungen mit einem Erzählrahmen läßt sie als einzigartig durchkomponiertes Musikstück erscheinen. Um die „Kunst des Bogenschießens“ (67) zu üben, hat die Ich-Erzählerin sich auf eine Blockhütte am Fuß des Mount McKinley zurückgezogen, nacheinander legt sie an, um ihre zwölf Pfeile zu verschicken, jeder davon wird die Erinnerung an eine Begegnung auslösen. Am Ende der Erzählung wird sie den Ort – „so weit heroben“ (111) – verlassen, die Pfeile wird sie zurücklassen, „ja, denn in der Welt, in der ich lebe, habe ich keine Verwendung für Pfeile und Bogen. In der Welt, in der ich lebe, ist Eros der Papagei einer Nachbarin, welcher schauerliche Laute ausstößt, wenn er die Tür gehen hört […].“ (111) Ironisch-melancholisch markiert die Autorin den Ausstieg aus der Erzählung als Rückkehr in „meine Welt“ (112). Der Ort hier oben ist auch der Ort des Schreibens, das Bogenschießen eine Metapher für das Schreiben, auch für dieses gilt, daß „es nie längere Zeit überspannt“ (68) bleiben darf.

Zur außerordentliches Kunst der Autorin gehört es, daß sie die komplexen Überlagerungen von Gewalterfahrungen und Glücksahnungen bis in den letzten Nerv der Erzählungen, von der Makroebene der Textstruktur zu ihrer Vernetzung mit dem einzelnen Wortmaterial, sprachlich fühlbar macht.

Im Titel, selbst ein Kunststück auf Miniaturebene, erscheint die derart enge Verknüpfung der Erzählungen untereinander programmatisch verdichtet. Im Lauf der Lektüre entfaltet sich dessen vielschichtige Verweisfunktion auf die Erzählungen im einzelnen und ihr Ineinandergewobensein. So weist „Klingen“ nicht allein auf die Titelgeschichte hin, gemeinsam mit dem (zusätzlich durch einen Reim verbundenen) Untertitel „Die Kunst über den Bogen zu springen“ werden zwei zentrale semantische Generatoren auf kunstvolle Weise aneinander gekoppelt und damit eine mehrfach wechselseitige Erhellung der einzelnen Erzählungen in Gang gesetzt. Es ist zum einen das Klingen, das sich kontrapunktisch durch den Erzählband zieht, von Anfang an und immer wieder ist es die Musik (als Vertreterin der Kunst allgemein) – „seine Seele steckte im Cello, das Holz, die Saiten, der Bogen“ (7), heißt es da. Der Bogen als pars pro toto für die Musik. In der Erzählung „Winter“ erhält der Er-Erzähler und Cellospieler von seinem Freund den Bogen seiner Mutter. Doch mit Bogen ist gleichlautend auch auf jenen angespielt, mit dem die Ich-Erzählerin in „Eros“ ihre Pfeile verschießen wird. Die Kunst, über den Bogen zu springen, erhält in dieser Erzählung eine eigene Auflösung in der Kunst, über den eigenen Schatten zu springen, die hier als Kunst der Begegnung beschrieben ist: „Es ist, als spanne man sich selbst jemandem entgegen, langsam, vorsichtig, die Kraft der Hinbewegung in allen Gliedern spürend, ohne Hast – der Bogen könnte brechen, die Sehne könnte reißen -, bis man den Punkt der Begegnung erreicht.“ (68f.)

Erst durch die Erzählung „Klingen“ (die sechste im Band) werden die LeserInnen mit der homonymischen Verwendung von Klingen (Klang) und Klingen (Plural zu Klinge, Rasierklinge) konfrontiert; schlagartig treten weitere Ambivalenzen zu Tage, die in einzelnen Schlüsselwörtern versenkt sind, und dringen den LeserInnen wie Pfeile (wie Klingen) unter die Haut.

Klingen. Die Kunst über den Bogen zu springen.
Erzählungen.
Klagenfurt/Celovec: Wieser Verlag, 2001.
173 Seiten, gebunden.
ISBN 3-85129-361-4.

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autorin

Rezension vom 29.10.2001

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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