Über 84 Kurzkapitel, die Titel wie „Underfucked“, „Kummer und Rotz“ oder „Das Rudel“ tragen, schildert eine namenlose Ich-Erzählerin die Lebens- und Beziehungsverhältnisse von vier Menschen um die Zwanzig. Als Vitalmacher der österreichischen „heißen Viertelstunde“ von 1968 sind Sex, (leichte) Drogen und (harter) Rock übrig geblieben, anstelle politischen Protests setzt die Grazer WG-Jugend der Jetztzeit auf ökologische und biologische Korrektheit. Auch die stiftet Identität. Ziel jedoch bleibt es, sich erstmal von den Lebensmustern der Eltern zu befreien.
Gevögelt wird in dieser nach einer weinartigen Zimmerpflanze benannten Erzählung viel und quer, die Rauschmittel sind meist staatlich sanktionierte oder selbstgebackene Lustigmacher. Der Wein, dessen Gewächse Stifts biographischer Erzählung Reben (2007) den Titel liehen, stammt hier aus dem Supermarkt und wird im IKEA-Zimmer literweise vernichtet. Ihren aus den 1990er Jahren entlehnten Soundtrack – Nirvana, Portishead, Nine Inch Nails – beziehen die Protagonisten aus Internet-Tauschbörsen, ihre Gelage pflegen sie vorwiegend zuhause. Die Autorin zeichnet ihre Figuren plastisch bis ins psychologische Detail und blättert in deren Buch der Jugend vor und zurück. Der langmähnige Bildbearbeiter Martin mit dem nervösen Augenlid, die karottenhaarige Esoterikerin Annabell und die erzählende Germanistikstudentin kennen einander seit ihren Gymnasialtagen in einer steirischen Kleinstadt, den stets bekifften Stefan nehmen sie als Puffer ins WG-Gefüge auf.
So teilen sie in der hellhörigen Bleibe ihre Stimmungen, Körper, Freunde und den Abstand zur Welt der Eltern. Die Ernährung schwankt einkommensabhängig zwischen Misosuppen und Billigtoast und die Küchencouch dient als Basis feuchter Orgien. Doch die eigentliche Offenheit und Weite, die junge Menschen in der Emanzipation vom familiären „Spießertum“ suchen, verfängt sich alsbald in Mustern und trennenden Unterschieden.
Die oft ängstlich-depressive Erzählerin bewegt sich mehr in Seitensprung-Chatrooms, Fetisch-Newsgroups und Weblogs als in der realen Gesellschaft, ihr energieloser Freund Martin lädt Pornovideos aus dem Netz und Freunde zu Pokerabenden, während die von beiden geliebte Annabell in schamanische Foren abdriftet. Als Leser ist man erstaunt, dass trotz dieser Orientierungshektik in der politisch indifferenten Mini-Kommune Poster ehemaliger Idole wie Jimi Hendrix, Audrey Hepburn und Kurt Cobain hängen.
In einer WG gibt es kein Entkommen vor Konflikten, Begierden und Spleens. Das „distanzlose Wissen über die anderen“ macht die Wohngemeinschaft viel zu schnell „zu einem familiären Konstrukt“, dessen Unterschied zum provinziellen Mittelstandsmilieu in der höheren geschlechtlichen Aktivität besteht. Die sexuell aufgeladenen Geschichten fallen dementsprechend drastisch, doch im Abgang triste aus: von der Spontangeilheit geht es über bisexuelle Dreier und „Rudelficks“ über in quälende Masturbation und pornografische Abstumpfung. Auch schmerzvolle Lebenseinschnitte wie Schwangerschaftsabbruch und Suizidversuch bleiben nicht aus.
Andrea Stift, die für diese Erzählung mit dem Literaturstipendium der Stadt Graz ausgezeichnet wurde, liebt kräftige Bilder. Sie wechselt in einem schnellen und originellen Satzrhythmus von prägnanter, nachvollziehbarer Innerlichkeitsprosa zum Jugendslang einschließlich Anglizismen. Liest man in Mieze Medusas Romandebüt vom „googlemappen“, schreibt die Grazer Autorin vom „bookmarken“ und „bashen“ – nicht immer sind eingedeutschte Neologismen vonnöten.
Wie in einem intimen Schauspiel lässt Andrea Stift die Individualität ihrer vier Hauptpersonen aufblitzen, gut gelingen ihr auch die Rückblenden auf die Pubertät in der österreichischen Provinz.
Stefan, der stillste WG-Bewohner, entflieht schließlich immer häufiger der geheimnislosen Enge, nach dem quasi „inzestuösen“ Partnerwechsel zwischen den drei Verbliebenen verschlägt es auch die Erzählerin hinaus in die nicht-virtuelle Welt. Noch in Graz lernt sie einen Iren kennen, in Prag verliebt sie sich, doch Rom erlebt sie bereits als abweisend. In der Abweisung und dem Schmerz „können wir uns am größten fühlen, alle Register ziehen“, wird sie bitter resümieren, „und der Einbildung frönen, dass wir viel stärker sind als alles andere.“
Trotz all der beschriebenen Bekümmernis des Erwachsenwerdens ist Andrea Stifts kammerspielartige Erzählung ein ausgefeiltes Portrait einer die Freiheit immerhin testenden Jugend.