Gretes Bruder Werner übt derweil in der Waschküche des Zinshauses seine Hochseilnummer. Er balanciert auf einem Strick, den er ans Fensterkreuz geknüpft hat, und tastet sich ahnungslos vorwärts: „Schritt für Schritt, kleine Schritte.“ Auf den Schlachtfeldern Europas bluten die Soldaten. Bald wird er einer von ihnen sein.
Die Schwester zieht es vor, mit ihrer Freundin Anni ins Kino zu gehen, wo sie sich „Jud Süß“ ansehen, bei dessen Exekution Grete peinlicherweise Tränen vergießt: Wer wird schon einem Juden nachtrauern! Manchmal gehen sie auch ins „Sternbräu“, lassen sich von Männern einladen und geizen nicht mit Küssen. Junge Mädchen eben.
Werner ist in seine Arbeitskollegin Hella verliebt, die er heimlich in die elterliche Wohnung einlädt. Als die Mutter und der 2. Franz, so nennen sie den Stiefvater, nach Hause kommen, verschwindet das Mädchen unbemerkt. Glück gehabt, denken sich wohl die beiden, denn der Stiefvater ist ein richtiger Kerl und versteht keinen Spaß. Auf Werner ist er nicht gut zu sprechen, weil er ihn für verweichlicht hält, womit er nicht dem deutschen Ideal entspricht. Sein leiblicher Vater, der 1. Franz, der Drückeberger und spätere Überlebende, glaubt jedoch an seinen Sohn.
Vielleicht will Werner seinen Mut unter Beweis stellen, als er sich sechzehnjährig freiwillig zu den Gebirgsjägern meldet. Auch der 2. Franz muss einrücken. „Wenn es einer schafft, dann der Franz, sagt die Mutter […].“ Doch weder der Ältere noch der Jüngere schafft es, und die Frau, die zu Hause bleibt, wird bis zu ihrem Tod, 35 Jahre nach Kriegsende, auf ihre Heimkehr warten.
Walter Müllers Roman ist tief in der Geschichte des 20. Jahrhunderts verwurzelt und erzählt die Wechselfälle einer österreichischen Dutzendfamilie vom November 1940 bis zum Jänner 1941. Dicht gedrängt reihen sich die Ereignisse aneinander, ernst, dann wieder heiter, wie Umspringbilder, die nie ihre endgültige Gestalt annehmen wollen.
Fotos, das Tagebuch der Grete Schöner und wenige Schriftstücke bilden das Material, aus dem der Erzähler seinen autobiografisch gefärbten Text webt, ohne auf der Authentizität des Berichteten zu beharren. So könnte es gewesen sein, lässt der Roman erahnen, und wer Lust hat, kann sich zwischen den Zeilen der kursiv gedruckten auktorialen Kommentare auf Spurensuche begeben. Doch was wäre damit gewonnen?
Kleine Schritte legitimiert sich dank seines beschwingten Duktus, der dialogische Passagen in den Vordergrund rückt, um auf diese Weise die Figuren präsenter und glaubhafter zu machen. Hier führen lebenslustige junge Menschen das Wort und entlasten geradezu spielerisch den schweren historischen Stoff.
Durch diesen Kunstgriff gelingt es Walter Müller, sich dem Genre der Betroffenheitsprosa zu entziehen und aus der Jahrhundertkatastrophe, zu der sich eine persönliche gesellt, sein durchaus heiteres Kapital zu schlagen. Die Realität von Gestapo, Endlösung und Front gewissermaßen relativiert, wird in diesem Buch ein Plädoyer für Lebenslust und -freude gehalten, wo Verzweiflung und Misanthropie nur allzu verständlich erschienen.
Sich vom Schrecklichen nicht in die Knie zwingen zu lassen, darin besteht die große Qualität von Walter Müllers Kleinen Schritten.