#Biografie
#Prosa

Kleiderflug

Elfriede Gerstl

// Rezension von Sabine Schuster

Schreiben Sammeln Lebensräume.

Am 16. Juni 2007 wurde Elfriede Gerstl 75 Jahre alt, am 19. Juni hat die Wiener Autorin den Heimrad-Bäcker-Preis erhalten. In ihrer Heimatstadt ist die ‚Meisterin des Beiläufigen‘ ein allseits bekanntes Gesicht, tagtäglich kann man der Flaneurin und Sammlerin auf ihren Wegen durch die Innenstadt begegnen. Anlässlich ihres Geburtstags hat die Wiener edition splitter eine erweiterte Neuflage des Bandes Kleiderflug herausgebracht, der die Autorin, ihr Schreiben und Leben in Texten und Bildern protraitiert.

 

Das neue Buch kommt wesentlich unprätentiöser daher als die unterm Silbereinband leuchtend rot gebundene Erstausgabe von 1995, es ist quasi ein Taschenbuch, allerdings mit dem Luxus einer sehr schönen, dezenten und funktionellen grafischen Gestaltung. Ausserdem ist tatsächlich mehr drin, der Band enthält vier neue Kurztexte und eine erweiterte Biografie der Autorin, deren Publikationsliste inzwischen gewachsen ist, etwa um das Kinderbuch „die fliegende frieda“ (1998) oder den Gedichtband „Mein papierener Garten“ (2006).

Im Zentrum steht nach wie vor Gerstls Studie über Konrad Bayer – „Aspekte meines Nachdenkens über den sechsten sinn„. Der Text ist ein Versuch, nicht interpretierend, sondern auf dem Wege der Verwandtschaft auf den Roman des Freundes und Weggefährten aus den Berliner Jahren zu reagieren. Gerstl stellt ausgesuchte Passagen aus ihrem eigenen, von Konrad Bayer beeinflussten Roman „Spielräume“ (1977) direkt dem „sechsten Sinn“ gegenüber, nicht ohne zu erwähnen, dass sie damit schwer gegen die Verhaltensregeln der „Wiener Gruppe“ von damals verstößt, denn jedes Sich-in-Beziehung-setzen wäre von den Mitgliedern als Anmaßung zurückgewiesen und durch Lächerlichmachung geahndet worden. (S. 27)

Heute ist das Schnee von gestern, und so „zappt“ die Autorin munter quer durch die Texte und findet auch in den Werken von Herbert J. Wimmer, Reinhard Priessnitz und Oswald Wiener Bezüge zum „sechsten sinn“, sogar Peter Handke und Gert Jonke verortet sie im Magnetfeld Konrad Bayers, der über vierzig Jahre nach seinem Tod immer noch als „auratische Kultfigur“ in der Szene gegenwärtig scheint.
Für gründliche Kenner der zugrundeliegenden Romane ist die Studie zweifellos ergiebiger als für jene Leser, die sich mit den Zitaten begnügen müssen. Die Autorin schweift jedoch, ihrer poetischen Verfahrensweise treu, ausgiebig vom Kernthema ab und entschädigt alle, die vielleicht den „sechsten sinn“ doch nicht gelesen haben, mit ausführlichen Erläuterungen und (selbst)ironischen Einblicken in das „Wiener-Gruppe“-Leben:
„Damals, in der Gruppenformation, (…) war es gescheiter, den Mund zu halten, zuzuhören und sich ihre Selbstdarstellungen anzuschauen wie eine Performance. Denn die vom Kulturbetrieb ausgegrenzten waren nicht nur tatsächlich grandios, sondern auch Grandiositätsdarsteller.“ (S. 27)

Neu entstanden und wohl aus aktuellem Anlaß in den Band aufgenommen ist der kurze Text „Mein Prater Dein Prater“, Elfriede Gerstls Beitrag zum im September uraufgeführten Kinofilm „Prater“ von Ulrike Ottinger, bestehend aus nur wenigen, scheinbar flüchtig hingeworfenen Sätzen voller Poesie: „2 x fürchten kaufen und rein in die geisterbahn. sich im spiegelkabinett (und seinen ebenbildern) verirren – schlicht und grad nicht mehr rausfinden. und immerzu fliegen im sitzen und liegen.“ (S. 35)
Das Sammeln und Erinnern sowie der essayistische Umgang mit reichlich angehäuftem Material verbinden offensichtlich die Filmemacherin und die Autorin. Ulrike Ottingers Idee zum Prater-Film etwa stammt bereits aus den 70er Jahren, so kann sie nun aus dem Vollen schöpfen bei ihrer rasanten Montage, in der sich alles dreht und bewegt, auch über die Zeiten hinweg… Die Zeit vergeht wie im Flug – Kleider, Ideen, Gedanken fliegen mit.

Die Leichtigkeit dieser imagninierten Bewegung findet ihre Kehrseite in Elfriede Gerstls essayistischen Betrachtungen über das Wohnen und Sammeln. Reflexionen über beengte Verhältnisse, über Zuflüchte, Zwangs- und Notgemeinschaften, die Neurosen produzieren und schließlich als Wiege der libidobesetzten Sammelwut festgemacht werden: „Sammeln verdankt sich wie die Kunst, wie jede produktive Leistung, unter anderem einem Mangel. Das früh Entbehrte kommt als Wunsch nicht zur Ruhe, und wer etwas von dem Vermissten später sich beschaffen kann, muss dennoch daran nicht satt werden.“ (S. 31f)
Elfriede Gerstl outet sich selbst nonchalant als „unechte“ Sammlerin, der es primär ums Finden und Kaufen geht, manches wird am Heimweg bereits wieder verschenkt, was bleibt, ist keineswegs permanente Lustquelle, die Dinge fliegen auch nicht, sondern gehorchen der Schwerkraft und liegen träge dort, wo sie seit langem niemand wegbewegt hat – Kleider und Kochtöpfe, Hüte und Plakate, Telefonbücher und Zeitschriften, Bücher und Lampenschirme besetzen im wahrsten Sinne des Wortes den Wohnraum.

Herbert J. Wimmer dokumentiert dieses Ambiente ungeschönt, aber mit freundschaftlichem Respekt in seiner Fotoserie „Alfabet des Wohnens“, deren neue Aufmachung dem Sujet durchaus entgegenkommt: Die 26 Schwarzweissfotos haben ihren noblen Charakter verloren, sie sind nun größer abgedruckt, grobkörniger, kontrastärmer. Kein Glanz, keine edle schwarze Umrahmung mehr. Ob künstlerische Intention oder billigere Produktion, das „Trashige“ ist nicht von Nachteil, es passt zum abgebildeten Übereinander und Untereinander von Dingen des Alltags, da ist bei weitem kein klarer Blick.

Trotz aller eingestandenen Unbequemlichkeiten ist dieser „Tandelladen“ explizit Teil eines Schaffensprozesses und nicht zuletzt auch ein Ort spielerisch-trotziger Selbstbehauptung. Augenzwinkernd kokettiert die Autorin mit der eigenen Unangepasstheit und dem Entsetzen des Gastes vor dieser vollgehängten Behausung, probiert Beschwichtigungsformeln aus und Empörungen: „was der größte Skandal ist – sich in diesem Kramuri auch noch wohl zu fühlen.“ Und am Ende landet der Ball elegant bei den Lesern/Betrachtern, denn diese sind es doch, die Probleme haben „mit den Anblicken des Chaotischen, mit dem sie sich vermutlich selbst im Kampf befinden, schwankend, wie viel sie sich gestatten sollen, davon zuzulassen.“ (S. 34).

Die drei verbleibenden neue Texte sind, jeweils nur eine Seite lang, ureigenen Gerstl-Domänen wie dem Kaffeehaus, den Kleidungscodes und Schuhmoden gewidmet. Letzterer spannt unter dem treffenden Titel „Time-Steps“ (S. 66) einen weiten Bogen von den wunderbar bunten Phantasie-Schuhen der Kriegs-Kindheit bis zur heutigen grellen Warenwelt und demonstriert dabei nocheinmal exemplarisch das literarische Verfahren der Autorin, ihre Time-Steps, Side-Steps, Mind-Steps.

Unbedingt zu empfehlen ist das Nachwort von Franz Schuh, der nicht nur den Themenbereich Sammeln-Flanieren-Dichten philosophisch unter die Lupe nimmt, sondern auch einen sehr persönlichen, einfühlsamen Zugang zur Arbeit Elfriede Gerstls zeigt.

Elfriede Gerstl Kleiderflug
Kurztexte und Biografie.
2. erweiterte Auflage.
Mit 26 Fotos von H. J. Wimmer.
Nachwort von Franz Schuh.
Wien: edition splitter, 2007.
73 S.; brosch.
ISBN 978-3-901190-44-5.

Rezension vom 08.10.2007

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

Informiert
bleiben

Sie können 3 Newsletter abonnieren:

  • Literaturhaus Wien News
  • Literaturhaus Wien Veranstaltungsprogramm
  • Österreichische Exilbibliothek News

Bitte schicken Sie uns eine entsprechende Nachricht mit dem Betreff „Newsletter bestellen“. Für Abbestellungen bitte im Betreff „Newsletter abbestellen“ schreiben.