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Kingpeng

Linda Stift

// Rezension von Karin Cerny

Jedem Wahrnehmungsausfall geht eine Wahrnehmungsschärfung voraus. Menschen und ihre Gerüche, ihre Körperausdünstungen, nimmt Kinga gnadenlos ekelhaft wahr – bevor sie umkippt und sich dann an nichts mehr erinnern kann. Nur daran, dass ihre geheimnisvolle Verdickung hinter ihrem linken Ohr („mein Horn“) wieder so heftig zu pochen begonnen hat. Kingas Blackouts könnten epileptische Anfälle sein, obwohl das im Roman nirgends angedeutet wird. Sie bleiben rätselhaft und strukturieren die lückenhaft erzählte Geschichte, die abwechselnd von Kinga oder seltener und kürzer von ihrem Bruder Nick, mit dem sie zusammenwohnt und einen Partyservice betreibt, dargelegt wird.

Kinga zelebriert ihre ausführliche Selbstbeoboachtung, wenn sie sich nicht gerade in raffinierte Selbstmordfantasien hineinsteigert: „Ich stelle mir vor, wie ein Regen von bunten Glasscherben auf mich niederprasselt, verursacht durch die Druckwelle eines abgestürzten Flugzeugs.“ Ihre Umwelt kommt zumindest geruchlich nicht gut weg: „Rufina schwitzt. Stirn, Nase und Wangen sind mit einem dünnen weißlichen Film überzogen, wahrscheinlich ihre Gesichtscreme, die durch die Poren nach außen quillt, weil die Haut schon übersättigt ist. Es sieht aus, als ob sie eine Gesichtsmaske aus Sperma aufgetragen hätte.“ Ihr Bruder Nick, sonst fast geruchsneutral, verpestet das gemeinsame Klo mit seinem unterträglich penetranten Kotgeruch und auch Kingas seltsame Liebhaber riechen ziemlich streng. Es sind Hundstage in dem Romandebüt Kingpeng von Linda Stift, Jahrgang 1969, geboren in der Steiermark. Die Hitze brütet über Wien, das Geschwisterpaar Nick und Kinga sitzt fast jeden Abend auf dem kleinen Balkon und beobachtet die reichen Nachbarn auf ihrer prächtigen „Terrakottainsel“. Der Blick geht neugierig nach drüben – ein Anfang wie bei Hitchcock. Man ahnt, das kann nicht gut gehen.

Kinga und Nick werden von den Ziervogels, dem Paar mit der schicken Wohnung, eingeladen, Kinga fühlt sich zum schweigsamen Butler Pavel hingezogen, Nick beginnt eine Affäre mit Rufina, die eigentlich mit Karl zusammen ist, der aber später mit Kinga seine Nachmittage im Wiener Stundenhotel Orient verbringen wird. Ein im Grunde einfacher Plot – eigenartige Menschen, die sich in eigenartige amour fous verwickeln -, den Linda Stift aber raffiniert erzählt. Das eine dämpft in dieser Geschichte das andere ab: Die klassische Nabelschau einer unglücklichen Frau wird durch einen Krimiplot angekurbelt (Pavel Pavlik wird tot auf der Terrasse aufgefunden); eine angedeutete Inzestbeziehung zwischen Nick und Klinga, die sich auf Partys gerne als Paar inszenieren, wird durch Genderfragen interessanter (Kinga hat ein Faible für die Unterhosen von Nick und Androgynität). Man weiß nie, wer der beiden manipuliert jetzt wen, wer der beiden lügt, wer steigert sich in eine Phantasie hinein.

Dabei ist Linda Stifts Sprache stets klar, präzise, unsentimental, was wohl auch die Stärke dieses vielversprechenden Debüts ausmacht, das trotz aller Neurotik und traumwandlerischer Traurigkeit durchaus Witz beweist: Leidensdruck muß nicht immer pathetisch sein.

Linda Stift Kingpeng.
Roman.
Wien: Deuticke im Zsolnay Verlag, 2005.
157 Seiten, gebunden.
ISBN 3-552-06008-1.

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autorin

Rezension vom 30.03.2005

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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