#Roman

Kinder der Medusa

Edith Kneifl

// Rezension von Peter Landerl

Die Idee, die Ferien zusammen mit Freunden auf einem Segelboot in der Ägäis zu verbringen, ist verlockend: lange Sommertage, keine überfüllten Strände, sondern die Weite und Freiheit des Meers, frischer Fisch und abendliche Diskussionen über Gott und die Welt bei Wein, Oliven und griechischem Schafkäse. Dies dachte sich auch Joe Bellini, Psychotherapeutin aus Wien, Hauptfigur und Erzählerin in Edith Kneifls neuem Roman Kinder der Medusa. Anfang September startet der Segeltörn im Hafen von Piräus. Wer ist an Bord?

Da ist einmal der aus einer reichen Athener Familie stammende Chris, ein Arzt, dem die Frauen zu Füßen liegen, ein Sunny-Boy, dem alles zufliegt. Begleitet wird er von den zwei Frauen seines Lebens, seiner Schwester Aphrodite, der Universitätsprofessorin, die ihn abgöttisch verehrt und von seiner Frau Regina, einer ehemaligen Schauspielerin, die Chris liebt, ihn zugleich wegen seiner zahlreichen Seitensprünge hasst. Gegen die Demütigungen tröstet sie sich mit verschiedensten Medikamenten und mit Evangelis, dem besten Freund von Chris, der die melancholische, tragische Figur in Kneifls Tragödie abgibt: ein ehemals engagierter, dann aber desillusionierter Kommunist, dazu gescheiterter Journalist und Wirt, alkoholabhängig und ohne Geld, aber ein Mann mit Herz und Gefühl. Von der Welt enttäuscht hat er sich ein Schiff, die Medusa, gekauft und versucht nun als Skipper auf dem Meer sein Glück. Mit von der Partie ist noch Akis, ein junger Grieche, der sich als Bootsjunge bei Evangelis verdingt und in die fünfzehnjährige Kathi verliebt ist, die Tochter von Lisa, der Malerin. Und mittendrin ist Joe Bellini, die zu allen Personen mehr oder weniger intensive (Liebes)Beziehungen hat oder hatte, und der nicht wirklich klar ist, ob sie eher auf Männer oder Frauen steht: „Vielleicht habe ich nie geliebt, nicht einmal meinen Ex-Mann. Männer haben mir die Zeit vertrieben, mir geholfen, meine Depression zu bekämpfen, es gab immer Männer in meinem Leben, die mir irgendwie geholfen haben. Verlassen fühlte ich mich nur von Frauen, um ihre Liebe kämpfe ich bis heute.“

Was als harmonische, entspannende Reise zur Auffrischung von Jugend- und Studienerinnerungen gedacht war, entwickelt sich bald zu einem Horrortrip. In der schwülen Septemberhitze brechen alte Narben auf, merken die Beteiligten bald, dass nichts mehr so ist, wie es war. Für den Leser ergibt sich schon nach wenigen Seiten die klassische Ausgangssituation für einen spannenden Krimi: Es passiert ein Unfall (oder ein Mord?), bei dem nur die Sonne (oder vielleicht doch noch jemand?) Zeuge war, die Verdächtigen sind sich auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Jeder könnte ein Motiv gehabt haben. Das Nervenspiel beginnt. Ein Sturm zieht auf und verschlägt die Medusa auf eine abgelegene, unappetitliche Irreninsel, wo Inzucht und ein verrückter Pope herrschen und eine zerfressene, zerstückelte, aufgedunsene Wasserleiche angeschwemmt wird und die Bewohner in Aufruhr versetzt.

Als dann der zweite Tote auf dem Schiff gefunden wird und ein weiteres Besatzungsmitglied spurlos verschwindet, beginnt sich das Karussell aus wahren und falschen Gefühlen wie verrückt zu drehen. Lagerkoller ist ein viel zu harmloses Wort für das, was passiert: Keiner traut dem anderen, Träume, übersinnliche Erscheinungen und Realität verschwimmen unter der gleißenden Sonne: „Nach und nach dämmerte es mir, dass ich zum ersten Mal in meinem Leben das Gefühl gehabt hatte, unbekannten, geheimnisvollen Mächten schutzlos ausgeliefert zu sein.“
Nun, ganz so schutzlos sind die Verbleibenden nicht, kommt Joe doch endlich Jan Serner, ein Wiener Kommissar, zu Hilfe. Der Kommissar bringt zwar ein bisschen Ordnung in den Kriminalfall, wirbelt aber Joes Gefühlswelt durcheinander.

Kinder der Medusa ist spannend bis zur letzten Seite und hat einen überzeugenden Plot. Souverän, wie klar und nachvollziehbar Kneifl in die Gefühlswelt ihrer Figuren eintaucht.
Unterfüttert wird der Roman mit vielen mythologischen Querverweisen. Die Idee ist zwar nicht neu und auch recht nahe liegend, trotzdem stimmig. Verführerisch schön sind die Verse von Jannis Ritsos, die die Erzählerin und damit auch den Leser durch die Wirren der Geschichte führen: „Die Sonne hier ist ganz und gar nicht lustig – eine zornige, alles beherrschende Sonne, mit ihren dichten Augenbrauen, dem viereckigen Kinn, mit ihrer vollen Brust, bis weit ins Meer entblößt.“

Bleibt noch die Gattungsfrage zu klären. „Roman“ steht unter dem Titel, auf dem Klappentext wird eine Kriminalhandlung angekündigt, und es ist tatsächlich so, dass „Kinder der Medusa“ „mehr“ als ein Krimi ist. Es ist auch ein Buch über Sexualität aus weiblicher Sicht und ein Buch über alternde, sich abnützende Liebe, über unterdrückten Schmerz.

Edith Kneifl Kinder der Medusa
Roman.
Berlin, München: Ullstein, 2004.
319 S.; geb.
ISBN 3-550-08462-5.

Rezension vom 20.04.2004

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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