#Roman

Kind aus Blau

Ronald Pohl

// Rezension von Eva Maria Stöckler

Miles Davis, geboren 1926 in Alton, Illinois, gestorben 1991 in Santa Monica, Kalifornien, war einer der innovativsten, einflussreichsten und zugleich faszinierendsten Jazz-Musiker des 20. Jahrhunderts. Der Trompeter, Komponist und Bandleader war mit dem Arrangeur Gil Evans Mitbegründer des sogenannten „Cool Jazz“, der 1957 mit dem Album „Birth of the Cool“ die Bebop Ära beendete, und schon zwei Jahre später sollte mit dem Album „Kind of Blue“ das meistverkaufte und für den modalen Jazz wegweisende Album entstehen, das in zwei Sessions in einem Studio in New York aufgenommen wurde.

Miles Davis spielte immer wieder mit verschiedenen Musikern, von denen er sich neue Impulse erhoffte, und wirkte damit an weiteren Jazz Karrieren, wie etwa von Cannonball Adderley, John Coltrane, später Herbie Hancock, Wayne Shorter, Chick Corea und Joe Zawinul mit. Für „Bitches Brew“ (1969/1970) experimentierte Davis mit elektronischen Instrumenten, danach begann er Trompete mit Wah-Wah-Pedal zu spielen und nahm stilistische Prinzipien von klassischer Musik, Funk, Rock und Soul aber auch Pop in seine Musik auf. Der Zahnarztsohn aus Illinois hatte den Ruf, eine überaus schwierige Persönlichkeit zu sein, er nahm verschiedenste Drogen, aber auch Medikamente gegen Sichelzellenanämie und litt an paranoiden Wahnvorstellungen und Halluzinationen.

All das zu wissen hilft jedoch nicht, will man sich Ronald Pohls „Roman der Rückbildung“ „Kind aus Blau“ annähern, den der Autor als „Ein Miles-Davis-Brevier“ bezeichnet. Ein mit ausgesprochen reicher, fast halluzinatorischer Phantasie ausgestatteter Ich-Erzähler beschreibt in facettenreicher, bild- und farbenprächtiger Sprache seine Geburt, seine Kindheit als Sohn eines Zahnarztes, seine Zeit als Musiker, in ständig wechselnden Zeitebenen, die immer wieder auf das Initialereignis des Romans – den Moment seiner Geburt – bezogen werden: „Das Blaulicht flackerte, als die Rettung meine Mum in die nächste Gebärklinik brachte.“ (S. 5) Da und dort sind Ereignisse aus dem Leben des historischen Miles Davis auszumachen, etwa sein Vertrag mit Columbia Records „Vor meinen Augen entstand plötzlich die Firma des Christoph Kolumbus, und in ihr liefen Bänder, …“ (S. 63), oder seine Beziehungen und Heiraten, dennoch bleibt die Person selbst im Hintergrund. Und das reicht auch – ein Brevier enthält nicht weniger, aber auch nicht mehr als die (mitunter recht kurzen) Stundengebete der täglichen Gebetszeiten. Der hier Angebetete ist ohnehin Teil des Gebets und als solcher längst schon transzendiert.

Lässt man jedoch vom Inhalt ab und begibt sich gerade nicht auf die Spuren des historischen Miles Davis, wird dieses Buch zu einem faszinierenden Kaleidoskop sprachlicher Akrobatik. Aus „Kind of Blue“ macht Pohl „Kind aus Blau“ und steigt damit ein in eine bild- und farbenreiche Sprache, die faszinierend wie überraschend gleichermaßen in das Leben von Miles Davis und ganz besonders in „Kind of Blue“ eintaucht. Pohl gelingt es auf eine überraschende Art und Weise, musikalische Bauprinzipien in sprachliche Formen zu gießen, musikalische Prozesse, musikalische Syntax in ein anderes künstlerisches Medium, das der Literatur, zu übersetzen, indem er sprachliche Semantik aufbricht, standardisierte Floskeln, Sprichworte, Zitate variiert, verändert, in neue Bezüge zu setzt, Worte aus einer Sprache in die andere übersetzt, ebenso, wie es Miles Davis in seiner Musik getan hat, wie es im Jazz mit Jazz Standards passiert. Eine Phrase, eine Melodie wird verändert, reharmonisiert, es wird über sie improvisiert, sie wird in neue Kontexte gelegt. Auch Pohl bindet seinen Text immer wieder an die Musik zurück. „An den Bebopbüschen gediehen dicke Sträuße Gladiolen. Die Posaunenzüge waren pünktlich, die Backenzähne hatten obendrein einen Stich ins Blaue.“ (S. 7) „Unsereiner stand in dem Geruch, kühl zu sein.“ (S. 12) „Coltrane nahm den A-Zug wie das Inhalat einer frisch entzündeten Zigarette.“ (S. 23) „Evans und andere Affen scheuchte ich aus dem Faulbett ihrer funktionsharmonischen Zusammenhänge.“ (S. 29)

Die Farbe „Blau“, der „Blues“, vor allem auch die Nummern des Albums spielen dabei eine besondere Rolle: So What, Freddie Freeloader, Blue in Green, All Blues und Flamenco Sketches bilden dabei das strukturelle Rückgrat – das Lead Sheet – von Pohls Text. Immer wieder bezieht er sich dabei auch auf europäische Musik und Kulturtradition. „Ich pflanzte Taktstöcke in das Pflaster. Die Katzen grinsten blausäuerlich, die blaue Milch der Frühe, wir schlabberten sie morgens, mittags wie abends in unseren Hotelzimmern.“ (S. 12.) „Die Bebopper waren gefesselt, armer Leute Kinder wurden von mir überzeugt. Ich besuchte sie in ihren Hütten, und brachte doch auch Friede den Palästen“. (S. 17) „Eines Abends, vor Antritt eines Besuchs, hörte ich Gesang, es waren Jünglinge im Feuerofen.“ (S. 26). „Ich beteuere mich. Hier komme ich mir zu stehen und kann nicht anders.“ (S. 65)

Weniger kunstvoll gewebt laufen derartige Texte leicht Gefahr, manieristisch zu werden, was Pohl jedoch zu verhindern weiß, weil er weiß wovon er spricht, weil er musikalische Fachbegriffe kunstvoll in das sprachliche Gewebe einwirkt. Eine Verneigung vor einem Großen der Jazz Geschichte, eine Hommage, eine Anbetung, eine „Rückbildung“, weil sie die Bildung (des Musikers Miles Davis, des Jazz überhaupt) zurückführt auf die Essenz, die diese Musik ausmacht: unbändige Lust am Spiel mit dem Material.

Ronald Pohl Kind aus Blau
Roman der Rückbildung. Ein Miles-Davis-Brevier.
Klagenfurt: Ritter, 2017.
112 S.; brosch.
ISBN 978-3-85415-556-0.

Rezension vom 20.03.2017

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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