#Roman

Kilometer null

Stefan Kutzenberger

// Rezension von Sabine E. Dengscherz

Eine Rezension löst einen Weltkrieg aus, und der proklamierte Tod des Autors kippt in eine neue Dimension: Erzähler und Figur tauschen die Rollen, der Schriftsteller ist sein eigener Protagonist und wird gleich auf der ersten Seite erschossen. Sein Leben und Sterben wird von einer Romanfigur geschildert, und seine Seele taumelt zwischen Buddhismus, Atheismus und Christentum, zwischen Vorstellungen von konstruierten Realitäten und realen Fiktionen, während die Menschheit wieder einmal in Kategorien eingeteilt wird – in gewohnter Absurdität und Willkür. Allerdings, so heißt es, sei der Autor glücklich gewesen in seiner letzten Stunde. Also: „Ende gut, alles gut“ (S. 9). Und außerdem: „Der Tod ist nur für die Lebenden schrecklich“ (S. 246).

 

In seinem jüngsten Roman Kilometer Null spielt Stefan Kutzenberger mit „unzähligen ungeschehenen Möglichkeiten“ (S. 392). Der Plot des Romans besteht aus etlichen Handlungssträngen, die in mehr oder weniger weit reichenden Rückblicken erzählt werden: Ein österreichischer Schriftsteller und UNESCO-Stipendiat namens Stefan Kutzenberger (aufgrund eines bürokratischen Missverständnisses bei der Einreise umbenannt in Mago Dro) wird auf seiner Überfahrt nach Südamerika über Nacht zum Geflüchteten, zum Gejagten und zum „Überlebenskünstler“ (S. 9). Kapitel für Kapitel erzählt Stefan Kutzenberger, wie es dazu kam, dass der Schriftsteller Stefan Kutzenberger alias Mago Dro in einer Kleinstadt im Norden Uruguays, an der Grenze zu Brasilien, in einem fensterlosen Pensionszimmer sein Ende durch Pistolenkugeln findet. Wie er sich zuvor über Tausende Kilometer, von Land zu Land, später von Lager zu Lager, von Stadt zu Stadt bewegt, während die Waffe von Hand zu Hand geht, durch viele Zufälle und Geschehnisse, die so gewesen sein könnten oder auch ein wenig anders. Und wie sich der Schriftsteller und die Waffe einander annähern, bis es bei Kilometer Null zur schicksalhaften Begegnung kommt.

Um nichts Geringeres als um Leben und Tod geht es also in diesem Roman, um Lebenswege, die so verschlungen sind wie „ein Wollknäuel […] mit dem mehrere Katzen gespielt hatten“ (S. 386) – und um die Stellen, an denen diese „Wollknäuel“ aufeinander zurollen und sich miteinander verknoten, in vielschichtigen Konglomeraten von Geschichten. Programmatisch lässt Kutzenberger fiktive Versionen einer scheinbaren Wirklichkeit aufeinandertreffen, die sich im Roman wunderbar zu einer vielschichtigen Erzählwelt zusammenfinden. Leerstellen in der Überlieferung, Unsicherheiten und Spekulationen sind Teil des Erzähl-Programms: Gerade das Unübersichtliche, Undurchsichtige regt die Fantasie an und das Fabulieren. Reales und Fiktives werden zu einem engen, bunten Erzählteppich verknüpft. Um nur ein Beispiel zu nennen: Der Autor lässt etwa ein Schiff wiederauferstehen, das man eigentlich 1952 abgewrackt hat; die Volendam, mit der bereits Thomas Mann gereist ist, kreuzt im Roman eine Weile vor der Küste Südamerikas (was etwas angelehnt sein könnte an die Irrfahrt der St. Louis 1939), bevor sie in Costaguana die Erlaubnis zum Anlegen erhält.

Was Musil einst Wirklichkeitssinn und Möglichkeitssinn genannt hat, macht sich bei Kutzenberger auf den Weg in die vergleichende Literaturwissenschaft Europas und Lateinamerikas. Versionen von Fiktion und Wirklichkeit treten in Konkurrenz zueinander, und die Frage, was Literatur und ihre Rezeption in der Welt bewirken können, entfaltet realpolitische Dimensionen mit Eskalationspotential: Zwischen Europa und Lateinamerika ist ein Streit über die Ausrichtung von Literatur entflammt, Krieg wird geführt um nichts, in Europa geschieht Schreckliches, und die Gestrandeten und Geflüchteten werden in Lateinamerika in „reale“ und „fiktive“ Personen eingeteilt. Fiktive haben alle Freiheiten, reale werden verfolgt. Gesellschaften sind gespalten entlang von unversöhnlichen Ansichten und Weltanschauungen, und wer als „Flüchtling“ abgestempelt ist, hat es nicht leicht. Menschen sind, wie wir wissen, zu allerhand Grausamkeiten fähig. Und die Fiktion ist nicht unbedingt weniger grausam als die Wirklichkeit.

Kutzenberger trifft mit seinem Roman, wieder einmal, einen Nerv der Zeit. Er führt die Absurdität der Kategorisierung von Menschen vor und die Willkür von Zuschreibungen, etwa wenn einer Figur ihre Identität abgesprochen wird, weil sie sich nicht so verhält wie erwartet, oder wenn die Menschheit eingeteilt wird in fiktive und reale Personen. Zentrales Motiv des Romans sind Weltsichten: Perspektiven, Blickwinkel auf Geschichte und Geschichten. Literatur ist Montage aus Erlebtem, Erlesenem, Aufgeschnapptem und Erdachtem, und Religion eine besondere Form der Erzählung: Kutzenbergers Seele wird als Schwein wiedergeboren, verlischt im Atheismus und begegnet einem gütigen Gott mit Rauschebart, der zwar allwissend ist, sich aber schwer damit tut, Nationen auseinanderzuhalten (für ihn sind schließlich alle Menschen gleich).

Wie schon in seinen früheren Romanen spielt Kutzenberger lustvoll mit Erzählhaltungen und intertextuellen Anspielungen. Kilometer Null ist nach „Friedinger“ und „Jokerman“ der dritte Teil einer Trilogie, in der der Autor sein Alter Ego in Kalamitäten verwickelt, die diesmal tatsächlich tödlich enden. Erzähler ist eine Figur aus einem der früheren Romane (aus „Friedinger“, dem ersten Teil der Trilogie), die allen Grund hat, ihm nicht allzu wohlgesonnen zu sein. Der Roman ist nicht zuletzt eine Hommage an das Fabulieren und die Fantasie, die Literatur und das Lesen. Und an die Empathie. So spricht Gott im letzten Kapitel (S. 388): „… denn Leserinnen machen es immer richtig, sie fühlen sich in andere hinein, sehen auch die andere Seite.“ Oder eben viele andere Seiten.

Stefan Kutzenberger Kilometer null
Roman.
München: Berlin, 2022.
400 S.; geb.
ISBN 978-3-8270-1441-2.

Rezension vom 04.04.2022

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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