#Roman
#Debüt

Kickboxen mit Lu

Roman Marchel

// Rezension von Martin Kubaczek

Ein sechzehnjähriges Mädchen und eine zweiundsiebzigjährige Schriftstellerin begegnen einander in einer „Pension zur schönen Gegenwart“. Beide sind ausgebüxt: die jüngere, um in einer Auszeit etwas in ihrem Leben klar zu kriegen, die ältere, um dieses Leben mittels Whisky abzuschließen. Diese, eine gescheiterte Schriftstellerin mit dem schönen Namen Tulpe Valentin, lässt sich von Lu erzählen, was der so durch den Kopf geht. Es ist ein Dienst aneinander, sozusagen ein Tauschgeschäft der vom Leben Derangierten, Drangsalierten. Zwei Eigenschaftswörter tauchen hier auf, die Lu faszinieren, die sie gerne verwendet, wenn sie auf entwaffnende Weise und mit gewinnendem Charme ihren verbalen Punch probiert: „Ramponiert“ und „glamourös“. Diese beiden Worte markieren auch die Pole, zwischen denen sich die Geschichte emotional aufspannt in der heruntergekommenen Pension mit ihrem wunderbaren Pfauengarten.

 

Im Debut Roman Marchels geht das Erzählen vom Moment aus, als work in progress: Lu legt der alten Frau ihr Handy in den Schoß, damit diese aufnehmen und später literarisch überarbeiten kann, was Lu spontan erzählt: „Das musst du streichen“, verlangt sie einmal entschieden von Tulpe, aber auch das wird Text. Lu fühlt sich dabei manchmal selbst wie in einem Film, den ihre Großmutter nacherzählt: „Sie hat den Film im Kopf gehabt, aber nicht die Abfolge.“ (92) Ins Erzählkontinuum betten sich so Binnengeschichten ein, die sukzessive Ausblick und Einblick in Lus und Tulpes Hintergründe geben. Ein Patchwork aus Beobachtungen, Reflexionen, Statements, Erlebnissen, subtilen Wahrnehmungen und Formulierungen findet sich hier im steten Wechsel besprochener und erzählter Welt. Dazu gehören pointierte Episoden Lus, ungemein treffende Lehrer-Charakterisierungen, das Rezept für das beste Bananenshake der Welt, ein veritables Therapeuten-Bashing, das berührende Vertrauensverhältnis zu Vater und Bruder, oder die Aktionen der adeligen Freundin Loretta, Staatsmeisterin im Kickboxen, mit der sich Lu den Eltern gegenüber offiziell auf einem zweiwöchigen Trainingscampus befindet. Über Lu lernt der Leser aber auch die Inhalte und Themen von Tulpe Valentins Büchern kennen, die sie in der Stadtbibliothek liest und kommentiert.

Während die Passagen und Episoden zu Tulpe Valentin in einer ruhigen Deskription gehalten sind, ist Lus Sprache rhythmisch strukturiert in kurzen, abgehackten Sätze mit Selbstunterbrechungen, syntaktischen Brüchen und Einschüben, rhetorischen Fragen (Antwortversuche Tulpes unterbindet die dominante Lu gern), Ellipsen und Inversionen, Anakoluth und Hypotaxe. Sie verwendet Vokabeln wie „schwummrig“ und den Szene-Jargon ihrer Altersgenossen. Wörter wie „waghalsig“ oder „leutscheu“ begeistern sie in ihrer anschaulichen Korrelation, im Notfall greift sie aber auch zur Selbsthilfe und bildet veritable Neologismen wie „nolesen oder entlesen oder alesen“ für den Zustand, „wenn man liest und gleichzeitig nicht liest“, weil die Gedanken woanders sind.

Marchel treibt aber auch sein doppelbödiges metaphorische Spiel, arbeitet mit Chiffren wie dem Pfau, Paradiesvogel und Vogel der Auferstehung und Schönheit, aber auch der Vanitas, der in manchen Kulturen auch als Engel gesehen wird. In einem unbekannten Motorradfahrer, der sie zur Pension bringt, erkennt Lu eine Art „Darth Vader“ oder Todesengel, und Patrice, der stille Besitzer der Pension, der den beiden Frauen quasi Asyl gewährt, wird als „Heiliger, Patrice, ein Engel“ (58) bezeichnet. Wiederkehrend findet sich auch das Tanzmotiv: Pfauen wippen auf der Banklehne „Mit Musik wäre ihr Wippen ein Tanz.“ (80) Einmal ist Lu bezaubert von der Schönheit der kreiselnden Bewegung einer Gruppe von drei Personen beim Überqueren der Straße, sieht als Tanz, was sich schließlich als Not eines Behinderten erweist, der von anderen geführt werden muss (54f).) Als Tanz wird auch das Kickboxen mit seiner Dynamik und physischen „Leichtkraft“ erklärt, wo jeder Impuls aus dem Innersten kommen muss. Das gilt wiederum für die Erzählung selbst, in der sich die impulsive und um ihre Selbstbestimmung ringende Lu kickboxend durchs Leben schlägt.

Als literarische Figur punktet die attraktive und dreiste Lu, die Kontrastfigur Tulpe Valentin als greise Alkoholikerin, die mal ein fröhliches und selbstbestimmtes Leben geführt hat, gelingt nicht im gleichen Maß; manche Kontur bleibt undeutlich, etwa wie und wo der Bruch zur Vereinsamung passiert ist, worin der Grund ihres Scheiterns in Beziehungen und im Beruf liegt und warum ihre Tochter die Kommunikation abgebrochen hat. Überraschen mag, dass ein männlicher Autor zwei weibliche Hauptfiguren wählt, während die Vertrauensfiguren in den Binnenerzählungen dann doch eher männlich sind, Mütter dagegen gar nicht vor- oder ziemlich schlecht wegkommen, etwa im Ton von: „Ist meine Mutter ein Vollkoffer? So einen Ratgeber müsste es hier geben.“ (S. 100)

Am Ende taucht dann das Motiv für Lus Auszeit in der Pension „Zur schönen Gegenwart“ auf und verleiht dem scheinbaren Slapstick ihres munteren Parlierens einen tragischen Unterton. Während sie zurückgeholt wird in die elterliche Normalität, gibt es eine solche Rückkehr für Tulpe Valentin nicht, sie bleibt allein und macht sich an die Arbeit: ihr letztes Buch, das der Leser in Händen hält – ein erfrischendes und in seiner Nachdenklichkeit beeindruckendes Debut.

Roman Marchel Kickboxen mit Lu
Roman.
St. Pölten: Residenz, 2011.
220 S.; geb.
ISBN 9783701715732.

Rezension vom 01.10.2011

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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