#Roman

Kennzeichnung

Claudia Bitter

// Rezension von Sabine E. Dengscherz (Selzer)

Ein betrunkener One-Night-Stand im Fasching, eine Schwangerschaft und eine einsame Hausgeburt: Auftakt für den Alltag einer alleinerziehenden Mutter, die in ärmlichen Verhältnissen in ihrem „Wohnungsloch“ von der Sozialhilfe lebt. Die Mutter trägt erst das ungeborene und dann das schreiende Kind durch den Tag, tut, was sie muss, um den Kleinen und sich selbst durchzubringen: Brav zu den Untersuchungen gehen, brav die Uniformierten in die Wohnung lassen, damit das Geld nicht gestrichen wird.

Claudia Bitters Roman Kennzeichnung beginnt wie eine Sozialstudie, zeichnet ein Milieubild von Ignoranz, ärmlichen Verhältnissen und Perspektivlosigkeit. Die Ich-Erzählerin Su lässt keinen Zweifel daran, dass sie sich eigentlich nur für zweierlei erwärmen kann: Serien im Internet und das Beisl. Bis mit dem Baby zwangsläufig ein drittes Interesse in ihr Leben tritt und die ersten beiden verdrängt: Das Leben besteht nun aus Geschrei, Stillen und Windeln wechseln.

Bei alledem wird Su aber nicht alleingelassen: Es gibt das „Amt“, das sich um alles kümmert und an alles denkt – und alles kontrolliert. Kapitel für Kapitel entwickelt sich der Roman zur Dystopie einer totalitären Gesellschaft, in der alles bis ins Detail geregelt ist: Bevor Willi in die Schule kommt, steht ein Besuch bei den Großeltern an, das „Amt“ schreibt es vor. An Willis erstem Schultag beginnt die Mutter wieder zu arbeiten. Das „Amt“ schreibt es vor. Willi wird vom Haustor abgeholt und die Schule gebracht: Das „Amt“ sorgt dafür. Su wird mit dem Bus in die Fabrik gebracht, das „Amt“ sorgt dafür. Willi ist ein stilles Kind und hat vor allem Angst. Das „Amt“ stellt fest: Willi hat ein Problem mit den Mandelkernen im Gehirn. Das „Amt“ kümmert sich um entsprechende Medikamente.

Die Gesellschaft ist in zwei Klassen geteilt: Plus und Minus. Den Kindern wird das Zeichen in die Haut gebrannt. Die Kennzeichnung weist ihnen ihren Platz fürs Leben zu. Alle wissen, wo sie hingehören. Su ist kein armes Mädel aus bildungsferner Schicht, sondern die Tochter eines Bankdirektors. Sus Elternhaus mitnichten ärmlich, aber arm an Zuwendung. Sus Baby wird ein Plus. Auch wenn man das den Verhältnissen, in denen sie leben, nicht immer anmerkt. Su ist antriebslos, desinteressiert und uninformiert. Pläne machen will sie nicht. Ein anderes Leben auch nicht. Solange es für dieses Leben reicht, ist es ok. Und wenn das „Amt“ einem hin und wieder noch mehr bietet, ist das natürlich toll.

Was sich abspielt außerhalb des „Wohnungslochs“, ist das Problem der anderen. Grundrechte, Chancengleichheit oder Demokratie sind für andere da. Die Gesellschaft wird von einem „gefährlichen Virus“ heimgesucht, das von den „Auswärtigen“ kommen soll, die deshalb mit allen Mitteln bekämpft werden müssen. Das unproduktive Zusammensitzen im Beisl ist nicht mehr gern gesehen. Gesundheit und Vernunft werden großgeschrieben vom „Amt“. Su fährt jeden Tag in die Fabrik, steht ihre Schichten am Fließband. Derweil wächst das ängstliche Willi-Kind heran und wird ein uniformierter, bewaffneter Erwachsener in der „Kampfmacht“.

Über weite Teile des Romans ist Su die Ich-Erzählerin, sie berichtet naiv, mit egozentrisch-kindlichem Hausverstand und einer gewissen lethargischen Schnoddrigkeit. Der Tonfall wird kälter, als die nächste Generation zu Wort kommt: Will schreibt die Geschichte weiter. Auf seine Weise. Grausam und erbarmungslos, bis schließlich eine auktoriale Erzählstimme übernimmt und zeigt, wo das alles hinführt. Kennzeichnung liest sich besonders schaurig zu Zeiten des staatlich verordneten Hausarrests und des schrittweisen Abbaus von Grundrechten in vielen Teilen der Welt. Ein Buch der Stunde. Auch wenn die Verordnungen im Roman nicht unbedingt der Bekämpfung eines Virus geschuldet sind. Aber das sind sie ja im wirklichen Leben auch nicht immer und überall.

Claudia Bitter Kennzeichnung
Roman.
Wien: Klever, 2020.
226 S.; geb.
ISBN 978-3-903110-56-4.

Rezension vom 06.04.2020

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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