#Roman

Keiner von euch

Felix Mitterer

// Rezension von Ulrike Matzer

Ein schwarzer Bucheinband wirkt im belletristischen Bereich befremdlich – doch dieser Effekt ist kalkuliert: Wie edler Brokat schimmert der Deckel dieses Bands, von einer gezeichneten Dattelpalme kontrastiert. Am Schmutztitel dieses Romans von Felix Mitterer blickt uns sodann ein dunkelhäutiger, eleganter Herr mit Turban an. Die Inschrift unter dem reproduzierten Stich identifiziert ihn als Angelo Soliman, „aus der königlichen Familie der Numider, ein Mann mit schönen Zügen, großem Geist […] und ein treuer Gesellschafter des Fürsten.“ Das stilisierte Porträt entstand im Auftrag ebenjenes Aristokraten, der sich – wie viele in seinen Kreisen – zur Selbstinszenierung einen „Hofmohren“ als exotisches Prunkstück hielt.

Doch das würdevolle Konterfei steht im Widerspruch zur makabren Schändung, die man mit dem Namen Soliman assoziiert. Als urbane Legende ist er in Wien seit zwei Jahrhunderten präsent, jener zwangseuropäisierte Afrikaner mit seiner außergewöhnlichen Karriere in der aufgeklärten Reichshauptstadt, den man am Ende seines Lebens wieder zum halbnackten „Wilden“ degradierte. Seither wurde er vielfach zum Objekt abstruser oder verklärender Geschichten, denn die Grenzen zwischen belegbaren Fakten und Anekdoten sind fließend.

Als gesichert gelten kann, dass eine Gräfin in Messina ihn als Sklavenjungen zum Geschenk erhielt. Sie taufte ihn auf den Namen Angelo und ließ ihn unterrichten. Der ihr verbundene Fürst Lobkowitz war von dem Knaben angetan und nahm ihn mit zu sich. Mit der Pubertät begann Soliman eine militärische Karriere (die auch Schwarzen offenstand), danach avancierte er zum Chef der Dienerschaft eines noch mächtigeren Aristokraten aus dem Hause Liechtenstein. Als fürstlicher Intimus durfte er von einer gehobenen Ausbildung profitieren; er sprach mehrere Sprachen, verfügte über universelles Wissen und war nach seiner Pensionierung 1783 ein angesehener Privatier. In diesen Jahren gehörte er als Intellektueller der Freimaurerloge „Zur wahren Eintracht“ an, ein Cercle der aufgeklärten Wiener Elite. Dort traf er auf Wissenschaftlicher wie Ignaz von Born und Künstler wie Mozart. Ein begabter Schachspieler war Soliman obendrein, Kaiser Joseph II. schätzte seine Gesellschaft. Umso gruseliger scheint es, dass er nach seinem Tod 1796 als spektakulär zur Schau gestelltes „Stopfpräparat“ in der kaiserlichen Naturaliensammlung endete; als Exponat wurde er auf ein primitives Rassenklischee reduziert.
Diese sensationellen Aspekte der Soliman-Story wurden seither vielfach verwertet, oft auf Kosten der realen Vita. In den zahlreichen Aufsätzen, Büchern und literarischen Travestien, die bislang erschienen, spiegeln sich immer auch zeittypische Werte. Zumeist wird der zum Wiener gewordene Afrikaner als Kuriosum dargestellt. Zwei Traditionsstränge kristallisieren sich dabei heraus: jene zur Idyllisierung neigende Sicht, die die erfolgreiche Assimilation betont und die angebliche gesellschaftliche Toleranz; daneben jene, die auf die strukturelle Unfreiheit verweist, auf die ewige Fremdheit Solimans.

Ebendiese ambivalente Rezeptionsgeschichte wurde 2011 in einer Ausstellung des Wien Museum neu und kritisch hinterfragt. Ausgerichtet vom Historiker und Journalisten Philipp Blom analysierte die Schau das Schicksal Angelo Solimans im weiten Kontext damaliger soziokultureller Verhältnisse; auch die widersprüchliche posthume Auseinandersetzung wurde aus übergreifender Perspektive diskutiert. Dieses Wissen über die bisherige Thematisierung des Soliman-Stoffs ist durchaus hilfreich, um Felix Mitterers Zugangsweise verstehen und einordnen zu können. Der erste biografische Kurztext erschien bereits 1807, verfasst von der Salonnière Caroline Pichler, deren Vater Soliman zu Lebzeiten noch begegnet war. Dieser Aufsatz stützt sich kaum auf Quellen und übernimmt die damals gängigen Afrika-Klischees. Ein Drittel ist der Kindheit und Gefangennahme Mmadi Makes (wie Soliman ursprünglich hieß) gewidmet, die Leichenschändung und Schaustellung sind ausgespart. Ein Korrektiv zu Pichlers Urtext lieferte Ernst Wilhelm A. Bauer 1922 mit seiner Biografie, die sich auf Archivmaterialien stützt und erstmals ein differenziertes Bild Angelo Solimans bot. Robert Musil dürfte wohl während seiner Arbeit am Mann ohne Eigenschaften auf Bauers Biografie gestoßen sein. Bei ihm wird die Story ins 20. Jahrhundert transferiert; Soliman lebt im Haus des Industriellen Dr. Arnheim, der ihn fast wie seinen Sohn behandelt, er wird Mitwisser der geplanten „Parallelaktion“ und ist in eine erotische Affäre verstrickt. Auch Fritz von Herzmanovsky-Orlando nahm sich dieses Stoffes an und wandte ihn ins Aberwitzige. Im Vordergrund seines Dramas Apoll von Nichts oder Exzellenzen ausstopfen – Ein Unfug steht die Kritik am Gehabe einer morbiden Aristokratie. Wiederholt wurde das Thema auch für die Bühne adaptiert, 1991 etwa von Ludwig Fels in seinem Stück Soliman. In dessen Mittelpunkt steht eine zutiefst fremdenfeindliche Gesellschaft, deren erotische Fantasien allerdings just ein Schwarzer erregt. In allen diesen Bearbeitungen jedoch erschien Soliman kaum je als eigene Person. Ebenjenen Objektstatus hat Iljia Trojanow 2008 in Form eines kurzen, in der Presse abgedruckten Selbstgesprächs ironisch kommentiert.
Neben diesen schriftstellerischen Annäherungen an das Thema bot auch das Mozartjahr 2006 Gelegenheit, verborgene Geschichte(n) aus der Zeit Mozarts zu heben und neues Licht auf Solimans ambivalentes Schicksal zu richten. Im postkolonialistisch-kritisch motivierten Kunstprojekt remapping mozart tauchte er als handelndes Subjekt in Videoinstallationen auf; Leitfigur war jedoch vor allem seine (ebenfalls dunkelhäutige) Tochter Josephine.

Mit diesen literarischen, dramatischen und künstlerischen Zugängen hat sich Felix Mitterer sichtlich sehr genau auseinandergesetzt, bevor er seine Version der Soliman-Geschichte konzipierte. In seinem Roman nun wird die subjektive Sicht von Angelo und Josephine Soliman mit derjenigen anderer relevanter Personen aus ihrem Umkreis konfrontiert. Der Text hebt an mit der Erzählung (dem inneren Monolog) der zwanzigjährigen Josephine, die als Novizin in einem Kloster in Messina nicht glauben kann, dass ihr Vater gestorben ist. Sich an einen vermeintlich von ihm verfassten Brief klammernd bricht sie auf nach Wien, um ihn und ihre Mutter zu finden. So dramatisch wie dieser Aufbruch auf den ersten Seiten gestaltet sich im Grunde die gesamte Story des Buchs. Viele Passagen sind bewusst verdichtet und effektvoll zugespitzt: Gleich eingangs, während des Disputs zwischen Josephine und der Mutter Oberin, die ihr die Briefe des Vaters vorenthielt, setzt ein Erdbeben ein, der Ätna bricht aus. Im Chaos auf den Straßen fängt Josephine einen herrenlosen Hengst ein und prescht davon. Solche Action-Szenen wirken, als wären sie für das Script einer Hollywood-Verfilmung geschrieben. Auch an sex and crime mangelt es in diesem Romandebut Felix Mitterers nicht – und damit tut er des Guten wohl ein wenig zu viel.
In Wien angelangt muss Josephine erfahren, dass ihre Mutter Clara, eine weiße Gräfin, im Narrenturm eingesperrt ist und dort seit Jahren vegetiert. Der Direktor dieses „Irrenhauses“, Professor Hoffmann, hatte ihr immerhin ermöglicht, ein Tagebuch zu führen. Dort ist alles aufgezeichnet, was sie erlebt und erfahren hat. Diese Journalnotizen Clara Solimans rollen das Geschehen, sprich: die Geschichte Solimans von dessen Ablieferung als achtjähriger Sklave bei ihrer Familie in Messina bis zu dessen letzten Tagen auf. Damit sind diese Zeilen neben jenen von Josephine die wichtigste „Stimme“ dieses Romans. Wechselweise findet sich daneben die jeweilige Sicht von Mmadi Maké (alias Angelo Soliman) eingespielt bzw. jene Professor Hoffmanns, ein Mediziner mit psychopathischen Zügen. Durch die wiederholten Wechsel der Perspektive wird das Geschehen in der Art eines analytischen Dramas peu à peu enthüllt. Ganz bewusst verquickt Mitterer dabei Fakten mit literarischer Fiktion, teils durch besondere erzähltechnische Kniffe. Schriftstellerische Freiheiten erlaubt er sich insbesondere bei den wenig sympathischen Charakteren (wie bei Professor Hoffmann) und dort, wo es um sehr Persönliches, Intimes geht. Solimans historische Herren Lobkowitz und Liechtenstein sind bei ihm in der Figur des fiktiven Fürsten Thurnstein vereint, der – pädophil und überschminkt – als Sinnbild für den dekadenten Adel fungiert. Das Motiv einer homoerotischen Beziehung zwischen dem Fürsten und Soliman findet sich bereits beim Biografen Wilhelm Bauer angedeutet, bei Felix Mitterer nun wird es explizit. Während im wissenschaftlichen Schreiben gilt, offene Fragen mit einem „Wir wissen es nicht“ zu markieren, bietet das literarische Genre einen gewissen Raum für Fantasie. Auch Carl Djerassi etwa reizte diese Möglichkeit in seinen „Dokudramen“ gerne aus.

Selbst wenn sich Mitterers krasse Überzeichnung mancher Charaktere kritisieren ließe (Hoffmann als finstere Figur, als Intrigant und Schlächter), desgleichen das Zuviel an Action (ein grausig-blutiger Showdown am Ende), ist seine Annäherung von der menschlichen Seite her ein Versuch, Soliman, seine Frau und seine Tochter als Persönlichkeiten wahrzunehmen und ihnen eine Stimme zu geben. Zwischen den Sätzen „Ich bin keiner von euch“ und „Sie sind einer von uns!“ tut sich die leitmotivische Ambivalenz von Solimans Dasein auf, und damit auch die Spannung von Mitterers Geschichte. Neuerlich stellt er einen gesellschaftlichen Außenseiter in den Mittelpunkt und thematisiert ein unbequemes Kapitel österreichischer Geschichte. So, wie andere vor ihm je zeittypische Sichtweisen auf Angelo Soliman projizierten, so dient auch Mitterer die Figur dazu, manches von heutigem Wissensstand aus offen anszusprechen, etwa den weit verbreiteten sexuellen Missbrauch Subalterner. Mit Jahreszahlen und trockenen Fakten belastet er uns dabei nicht; sein Ziel war sichtlich, einen eingängig zu lesenden Roman zu schreiben, der bis zur letzten Seite spannend bleibt. Zugute halten muss man ihm auch, dass er dabei en passant den Zeithintergrund und die gesellschaftliche Atmosphäre anschaulich vermittelt. Der Wandel von der höfisch-feudalen Gesellschaft zu einer bürgerlich-aufgeklärten findet sich mit all seinen Widersprüchen so kundig wie treffend geschildert. Die Regierungsjahre Maria Theresias, jene der Mitregentschaft ihres Sohnes und dessen Errungenschaften als „Reformkaiser“ Joseph II. – das Eindämmen der Vormacht der Kirche, die Abschaffung der Leibeigenschaft, der Aufbau eines modernen Gesundheitssystems – sind ebenso präsent wie der repressive Backlash unter dem späteren Kaiser Franz. Die in den josephinischen Jahren in Freimaurerzirkeln hochgehaltenen Werte von Humanismus und Toleranz (in Mozarts Zauberflöte verdichtet) grundieren den Roman ebenso wie einstige wissenschaftliche Evolutionstheorien, die großteils zur Rechtfertigung der Kolonialherrschaft der Europäer dienten.
Ebendieser Aspekt, die Rolle Österreich-Ungarns im Kolonialismus und im Bereich des Sklavenhandels, dieser auch die Monarchie prägende „Rassismus der Aufklärung“ wurde in der Geschichtsschreibung lange unter den Tisch gekehrt. Genau jene rassistisch-koloniale Mentalität des 18. Jahrhunderts wirkt jedoch bis heute subtil nach – sprachlich, bildlich und über die Diskriminierung aller, die irgendwie „anders“ aussehen. Dass Felix Mitterer in seinem Roman die Verstrickung Österreichs mit kolonialem Gedankengut thematisiert, verleiht ihm ungeahnte Brisanz: Im Zuge der neu aufgeflammten Black Lives Matter-Bewegung tut es not, den Blick kritisch auf das Eigene, die eigene problematische Geschichte und Gegenwart zu richten. Einen guten Anstoß dazu bietet Felix Mitterers Roman – so gesehen ist er das Buch der Stunde.

Felix Mitterer Keiner von euch
Roman.
Innsbruck, Wien: Haymon, 2020.
344 S.; geb.
ISBN 978-3-7099-3495-1.

Rezension vom 29.06.2020

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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