Keine Namen steht in der Tradition des Nouveau Roman, d.h. die Handlung, so fern man von einer sprechen kann, dient lediglich als Folie für ein gedankliches Konstrukt, das die Wahrnehmungsstrukturen der Realität hinterfragt. Keine Namen gibt vor, dass ein Beamter des Innenministeriums einer Journalistin erzählt, dass – und wie -er im Informationswesen zu Geld gekommen ist, „sehr viel Geld“. Die beiden sitzen in der Wohnung des Protagonisten. Sie interviewt ihn, er antwortet. Diese Szenerie lässt sich aus den Antworten rekonstruieren, die der anonyme Protagonist auf die gestellten, aber nie angeführten Fragen gibt. „Sie bekommen Ihre Antworten. Ob sie die richtige ist, weiß ich nicht. Es gibt ja auch keine richtigen Fragen.“ (S. 100)
Das Gespräch, genauer gesagt: die Selbstauskunft des anonymen Helden dreht sich in Andeutungen um konkrete Dinge wie Wohnungen oder Autos, die ihrerseits nicht mehr sind als mögliche Schauplätze für mögliche Vorgänge. In der paranoiden Welt des Protagonisten, in der man idealerweise alles weiß, aber nicht zuviel beim Namen nennt, versteckt sich hinter dem Sichtbaren eine Fülle von Unsichtbarem. Keine Namen bietet auf diese Weise – wie die bisherigen Romane von Lucas Cejpek auch – einen erdenklich großen Spielraum für Interpretationen. Dabei wird eine Sentenz, die sich durch das ganze Buch zieht, zu berücksichtigen sein. Es handelt sich um eine Szene, die auf eine der Vasen gemalt ist: „Die Perlschnur, das Wellenband und das gegenläufige Blattornament, die Palmetten, das Eierstabkyma, die Mänade, die ihre Scham entblößt, der Mäander, die Perlschnur.“ (S. 40). Dieses kleine Motiv taucht – fallweise mit einem Satyr und einer Nymphe in allen erdenklichen Stellungen und mit etlichen, zum Teil unanständigen Hilfsmitteln ausgestattet – immer wieder auf. Im Geschehen zwischen Eierstabkyma und Mäander spiegelt sich mit Nymphe, Satyr und Mänade (das Lexikon sagt, es handle sich dabei um eine Bacchantin) die Erzählung des anonymen Helden. Wenn er zum Beispiel über seine Vasen spricht, hält plötzlich auch eine Figur des beschriebenen Motivs eine Vase in der Hand. Wenn der Protagonist eine sexuelle Annäherung an die Interviewerin erwägt, treiben es auch die Figuren auf der Vase heftig.
Raffiniert wie diese Spiegelung ist Cejpeks Destillat aus freier Erfindung, sprachlich komprimierten Zeitungsberichten über die Spitzelaffäre der FPÖ und Bildbeschreibungen aus (anonymen) Fotoalben im Ganzen. Die Reflexionen des Antihelden über Sprache, Information, Chiffrierung und Dechiffrierung liefern reichhaltige Anhaltspunkte für ausgedehnte Meditationsmöglichkeiten im Feld von Sprache und Wirklichkeit. Alle Sätze sind dabei auch auf die Literatur anwendbar, etwa wenn es heißt: „Das Problem an der Information ist nicht ihre Rätselhaftigkeit, sondern ihre Banalität. Die meisten Botschaften sind nicht einmal für die interessant, für die sie bestimmt sind.“ (S. 133). Der Protagonist feit sich davor, indem er von Einzelheiten berichtet. Denn, so behauptet er: „Präzision ist schockierend.“ (S. 156.) Schockierend vielleicht wie das grelle Licht in den pornographischen Aufnahmen, die am Schluss des Buches im Fotoalbum des Protagonisten auftauchen und seine Reputation als Auskunftsperson über Welt und Wirklichkeit letztlich erst wieder in Zweifel ziehen.
Keine Namen lässt, wie gesagt, viele Interpretationen zu. Für eine sprachphilosophische Lesart spricht unter anderem auch die Kernszene in der Mitte des Textes. In dieser Szene zertrümmert der Protagonist einen Spiegel und fordert die Zuhörerin auf, in das Zimmer zu treten, das dahinter liegt. Dies ist, nebenbei bemerkt, die einzige Szene im Buch, in welcher der Protagonist nicht nur redet, sondern auch handelt. Jedoch: Sie landen im selben Zimmer. Alle Pfade im Feld zwischen Sprache und Wirklichkeit, möchte man meinen, müssten schon längst ausgetreten sein, wenn man vor oder hinter den Spiegeln immer die gleichen Räume betritt. Aber Keine Namen belehrt einen eines Besseren: „Die Befriedigung, die man empfindet, wenn man etwas nicht versteht! Das können sie nicht nachvollziehen, nehme ich an. Das können Sie nicht verstehen!“ (S. 115) – Aus solchen Sätzen spricht die Entdeckerlust des Denkenden. In Adornos „Minima Moralia“ findet sich ein verwandter Satz. Dort heißt es: „Wahr sind nur die Gedanken, die sich selber nicht verstehen.“
Mit diesem Hinweis seien all jene hinreichend gewarnt, die vielleicht noch immer meinen, dass am Ende der Rezension endlich steht, worum es in dieser Geschichte eigentlich geht. Freilich: Befriedigung aus dem eigenen Denken ziehen zu können, ist für die Lektüre von Keine Namen unbedingte Voraussetzung.