#Lyrik

Kein Tag geht spurlos vorbei

Kundeyt Surdum

// Rezension von Wolfgang Straub

In einem der schönsten Gedichte Kundeyt Surdums, es entstammt dem 1991 erschienenen Band Landlos. Türken in Vorarlberg, schiebt der Autor Eindrücke vom Bodenseegestade und Erinnerungen an das Meer bei Istanbul übereinander, er versöhnt beide Gewässer – und letztlich auch beide Sprachen – miteinander („Das Wasser ist überall / sonnenbespritzt“). Diese Überlagerung zweier Sprachen und Realitäten ist Surdum wichtiges Thema geblieben. Aber nun geht der Autor tiefer ins Persönliche, bis ins Intime hinein. Die Umgebung tituliert er mitunter noch als „Fremde“, aber sein lyrisches Ich spricht „in meiner deutschen sprache“. An diesen Verwerfungslinien eines Begreifen-Könnens der Welt mittels Sprache entstanden die stärksten Gedichte dieser kleinen Sammlung, vornehmlich im Abschnitt „Genugtuung in der Fremde“, der sich mit dem alltäglichen Einrichten im österreichisch-türkischen Zwischendasein und mit der Sehnsucht nach Heimat (ohne dieses Wort zu verwenden) auseinander setzt.

Wenn nun der Autor den Versuch unternimmt, diese Verwerfungslinien, an denen Dichtung immer angesiedelt ist, physisch zu verstehen, und sich in seinen Liebesgedichten wörtlich an solchen Linien entlang schreibt, geht das leider nicht ohne sprachliche Verkrampfungen ab. Da wächst einem Gedicht, das, weil sich die Geliebte zurückzieht, an Mannes statt selbst den geliebten Körper aufsuchen muss, aus dieser Phantasie heraus plötzlich eine Zehe, da wird die „Freundschaft“ zweier Brustwarzen geküsst (nicht etwa diese selbst). Diese konkret-abstrakten Mischungen in physisch-amourösen Belangen erinnern nicht von ungefähr an Fried-Gedichte, Surdum scheint sich von Erich Frieds Literatur Inspirationen geholt zu haben, er widmet ihm auch einen seiner Texte.

Aber Surdum große Ähnlichkeit mit den allzu oft glatten Texten jenes Exilösterreichers nachzusagen, wäre nicht treffend, dazu sind zu viele Brüche, ist zu viel Unkonventionelles in diesen Gedichten. Surdum packt die Wörter direkt an und in seine Texte hinein, manchmal, so scheint es, ohne großen formalen Gestaltungswillen, er verwendet nach Gutdünken einmal Normal-, ein andermal nur Kleinschreibung. Münzt man dies ins Positive um, so verhilft diese Methode den Gedichten zu einer Lockerheit und Unmittelbarkeit.

Diese Gedichte zählen nicht zur „österreichischen Lyrik abseits von Erich Fried“, wie der Verfasser des Nachworts, Sigurd Paul Scheichl in einer Anthologie zur „sprachartistischen Literatur“ vor kurzem schrieb, es sind auch keine „deutschen“ Gedichte (wie Scheichls Nachwort sogar am Umschlag zitiert wird), mag auch „deutschsprachig“ gemeint sein. In der Sammlung Kein Tag geht spurlos vorbei kann der Leser diesem vorarlbergischen Autor unmittelbar bei seiner Sprachgewinnung zusehen, das geschieht in den stärksten Passagen unprätentiös und schön verquer. Schön auch, wie der Autor weg geht von nationalen Zuschreibungen, vielmehr scheint er seine Herkunft aus dem Meer herleiten zu wollen. Und wenn ihn etwas an das Land erinnert, in dem er geboren wurde, ist das – eine Glatze.

Kein Tag geht spurlos vorbei.
Gedichte.
Eggingen: Edition Isele, 2002.
112 Seiten.
ISBN 3-86142-218-2.

Rezension vom 18.02.2002

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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