#Lyrik

kein mund. mündung

Udo Kawasser

// Rezension von Jelena Dabić

Die Literatur und das Leben, das Weltwissen und das Wissen um die Unmöglichkeit der Liebe: Alles lässt sich am besten vor dem Hintergrund einer Landschaft betrachten. kein mund. mündung – der erste Gedichtband des aus Vorarlberg stammenden und in Wien lebenden Autors – erforscht etwa im Titel gebenden Zyklus die Landschaft des Donaudeltas. Fast alle elf Texte des einerseits bibliophilen und andererseits sehr bescheiden aufgemachten Bändchens – ein Markenzeichen der Kölner parasitenpresse – entstehen vor dem Auge des Lesers aus einer Landschaftsaufnahme heraus, die den Raum für existenzielle Fragen wie kulturgeschichtliche Reminiszenzen bereitstellt.

Der erste Zyklus, unter dem Titel „leibeigene geschichten (ein kanon)“ zusammengefasst, thematisiert das Verhältnis des heutigen Dichters zu seinen großen Vorbildern, hier den Dichtern der römischen Antike und der (italienischen) Renaissance. Nicht ohne Selbstbewusstsein sieht sich das lyrische Ich als selbstverständlichen Begleiter, Kollegen und zugleich Schüler von Größen wie Petrarca, Ovid und Vergil – klarerweise immer mit einem Augenzwinkern – und stellt, formal recht originell, äußerst dramatische Momente mit denselben dar. Einmal stürzen der junge und der alte Dichter gemeinsam von einem Gipfel, ein anderes Mal sausen sie durchs Eiserne Tor und schaffen es, dabei noch den Rest eines Dialogs zu führen; schließlich gehen die beiden in einem römischen Herrscherpalast ihrer Zungen verlustig, nicht aber der Möglichkeit zu schreiben. Alle drei Texte, die trotz ihrer Zweizeilen-Strophen als eine einzige syntaktische Einheit daherkommen, setzten beim Leser ein beträchtliches Maß an klassischer Bildung voraus (Nachschlagefrequenz etwa wie in den ersten Kapiteln des „Zauberbergs“).

Im zweiten, nicht minder interessanten Zyklus betrachtet ein einsames Subjekt eine kalte, stille, auf irgendeine Weise beschädigte Deltalandschaft. Die Sprachlosigkeit, das Schweigen der Natur korrespondiert mit der (erzwungen) Einsamkeit des Wartenden, Suchenden oder auch Flüchtenden. Das erste Gedicht des Zyklus, das ohne Übertreibung als vollendeter Text bezeichnet werden kann, weist eine Fülle von meisterhaft eingesetzten formalen Mitteln auf, die Naturmagie im konkret Sichtbaren spürbar machen. Neben Assonanzen und Alliterationen findet sich hier auch eine eigenwillige anthropomorphisierende Metaphorik: „die knackenden knochen / des toten holzes“, „die ausgebrannten schenkel / der astgabeln“. Die übrigen vier Texte variieren das gleiche Thema und das Setting, wobei sie über die reine Naturwahrnehmung hinausgehen. Formal nicht so gelungen wie der erste, evozieren sie eine geheimnisvolle Stimmung, die Fragen aufwirft und unbeantwortet lässt.

Der dritte Zyklus, „heimatlose gedichte“ genannt, ist an keine bestimmte Landschaft gebunden. „kalte rodung“ etwa, sehr lakonisch und zugleich sehr überzeugend, ist auf einer nordischen Insel angesiedelt. „enterbt“ hingegen zeigt ein Stück einer winterlichen Stadtszenerie. Nicht frei von etwas manierierten Verschlüsselungen, birgt das Gedicht mit dem sehr klaren Abschlussbild auch eine leise Hölderlin-Allusion. In „geröllstufe“ findet geologisches Vokabular Eingang in die Bildsprache; Landschaftsformen werden in das Innere des menschlichen Körpers übertragen. Auch hier öffnet sich ein breiter Interpretationsraum: Vom (gewaltsamen) Tod kann genauso die Rede sein wie von der Geburt, auf sonderbare Weise wird der Mensch in seiner Bausubstanz eins mit der Natur: „silben in den senken / verkarsteter hirnregionen […] aufgang der flechtennatur“. Oder man kehrt das Ganze um: Werden anatomische Formen lediglich als Sprachmaterial für die Schilderung einer Landschaft benutzt? Dann könnte der blutende Nabel genauso einen Sonnenauf- oder Untergang symbolisieren.

kein mund. mündung steht zum Großteil in der Tradition des modernen Naturgedichts nach 1945. Stellenweise ist man an Eich, Bobrowski, Huchel, Jürgen Theobaldy oder (angesichts einschlägiger Motive) sogar an ältere Vorbilder wie Georg Britting erinnert. Dem Autor gelingt es dabei immer wieder, die unmittelbare Wahrnehmung der Natur mit interessanten Fragestellungen oder mit Momenten des Unerwarteten, Geheimnisvollen zu bereichern. Auch seine Lust an der Sprache, insbesondere an ungewöhnlichen Wörtern, wird hier deutlich – wie übrigens schon in Kawassers erstem Buch, dem Kurzprosaband „Einbruch der Landschaft“ (Ritter 2007). In Form von Reiseskizzen über Zürich und Havanna lotet er hier die Wechselwirkung von Landschaft und Individuum aus. Auch seine zweite Berufung – zeitgenössischer Tanz – macht sich in den ersten Texten des Bandes bemerkbar: durch seinen geschärften Blick für die Ästhetik des Körpers und der Bewegung. Mit seinem ersten Gedichtband legt der Autor, der bereits als Übersetzer kubanischer Lyrik hervorgetreten ist, ein Stück solide Gegenwartslyrik vor, die überzeugt und Lust macht auf weitere Texte.

Udo Kawasser kein mund.mündung
Gedichte.
Köln: parasitenpresse, 2008.
14 S.; brosch.
keine ISBN.

Rezension vom 11.03.2009

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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