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#Prosa

Kein einziger Tag

Linda Stift

// Rezension von Bernhard Oberreither

Das österreichische Biotop scheint immer die richtige Feuchte für unheilvolle Symbiosen zu haben. Wer sich für einige Ansichten inzestuöser Hasslieben den Blick in die Politik- und Medienlandschaft ersparen will, für den gibt die Literaturgeschichte auch einiges her: Von Bernhard über Bachmann bis Jelinek findet man da Familien-, Paar- und sonstige Beziehungen in allen denkbaren unglücklichen Verschränkungen. Vielleicht ist es die alpenländische Isolation, vielleicht ist es auch nur ein behutsam kultiviertes Selbstbild. Das Geschwisterpaar Nähe und Enge jedenfalls spielt auch in Linda Stifts neuem Roman Kein einziger Tag eine Hauptrolle.

Um Geschwister im eigentlichen Sinn geht es auch. Paul und Paco waren sogar einmal zusammengewachsen. Als siamesische Zwillinge geboren, war der zurückhaltende Paul heilfroh, dem Bruder durch die trennende Operation entkommen zu sein. Paco hingegen, eine ausufernde, laute Persönlichkeit, hat das nie ganz verkraftet: Auch jetzt weicht er Paul nicht von der Seite, später bastelt er sich eine Puppe, die ihm, an die Seite geschnallt, den amputierten Bruder ersetzen soll. Das Erwachsenendasein gestaltet sich als ständiges Räuber-und-Gendarm-Spiel: Paul baut sich fern seines Bruders eine Existenz auf, bloß um dann, wenn dieser ihn wieder einmal aufgestöbert hat, panisch die Zelte abzubrechen und zu verschwinden. Und jetzt ist es wieder einmal so weit: Paco steht vor der Tür, verlangt Einlass und bringt wieder alles durcheinander, zerstört wieder alles. Dabei hatte Paul es sich gerade gemütlich eingerichtet, ein kleines Geschäft, sogar eine Freundin. Die ist zwar die meiste Zeit über recht abweisend; irgendetwas scheint sie ihm aber trotzdem zu geben.

Wenn Paco plötzlich wieder raumgreifend in Pauls Leben steht, dann geht mit dieser Aufdringlichkeit, wie stets in Stifts Romanen, eine deutliche Note abstoßender Körperlichkeit einher; dazu müssen die Brüder nach durchzechter Nacht gar nicht erst ineinander verschlungen im Bett aufwachen. Die störende Anwesenheit eines Anderen, die den Wunsch weckt, sich nur noch in sich selbst zu verkriechen und sich ausgiebig die Hände zu waschen, macht Stift mit scheinbar einfachen Mitteln unheimlich greifbar. Übrigens nicht erst in diesem Buch – schon ihr Erstling, Kingpeng, weist eine Hand voll Charaktere auf, die sich vor allem durch ihre unschönen Attribute auszeichnen und voneinander abstoßen. Der Wunsch der Stift’schen Protagonisten, eine imaginäre, aber unüberwindliche Grenze zwischen sich und dem Gegenüber zu ziehen, wird dem Leser unmittelbar verständlich gemacht: Es ist eine Ästhetik des Ekels, Ekel als der stille, aber allgegenwärtige Grundton jeder Beziehung.

Und dem Leser wird auch bald klar, warum Paul sich beispielsweise gerade diese Frau gesucht hat. Mit ihrem abfälligen Ton, ihrer Selbstgerechtigkeit hat Stift hier mit schnellem Strich ein schönes Miststück kreiert. Die Unterwerfung und die Distanz, die sie einfordert, scheinen für Paul mit seinem beschädigten Beziehungsorgan wohl für immer zur Zweisamkeit zu gehören.

Oder fast immer. Denn bald erfährt der Leser – was ihm in seiner Sympathie für den gequälten Bruder einen gewaltigen Dämpfer gibt –, dass dieser ein „Tier“ im Keller versteckt hält. Das Tier ist blond und trägt Strickjacken; eigentlich wollte Paul es ja gleich, nachdem er es gefangen hatte, wieder freilassen. Dann hat er aber irgendwann den richtigen Zeitpunkt versäumt …

Auch wenn es ihn nicht zu mögen scheint (Paul hat wirklich kein Glück mit Frauen), mit der Unterworfenen im Keller kommt eine Beziehungsfacette ins Spiel, die er in seiner oberirdischen Beziehung wohl als Defizit erlebt – eine perfide und gleichzeitig schlüssige Konstellation.

Nicht nur hier, aber hier besonders hat der geprüfte Österreicher das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Um den deutlich beschädigten Helden Paul tun sich – in seiner Beziehung zu seinem Bruder, zu seiner Freundin, zum „Tier“ – bald immer mehr Abgründe auf. Das einzige, woran er sich noch festhalten zu können glaubt, ist die Narbe – das unauslöschliche Zeichen seiner Eigenständigkeit, seiner Trennung vom übermächtigen Bruder. Aber wart‘ nur ab, denkt der ahnungsvolle Leser bei sich.

Linda Stift kennt ihren höchsteigenen literarischen Bezirk genau. Ihre Bücher sind, auch jenseits aller Tagesaktualität, Analyse und groteske Zuspitzung zugleich. Sie sind exakte Beobachtungen privater Befindlichkeiten, die sich, wenn man will, auch zu gesellschaftlichen Psychologien hochrechnen lassen. Und wie das in der Psyche so ist: Da wie dort lauert auch immer etwas Dunkles unter dem Teppich.

Linda Stift Kein einziger Tag.
Roman.
Wien: Deuticke im Paul Zsolnay Verlag, 2011.
171 Seiten, gebunden.
ISBN 978-3-552-06160-6.

Rezension vom 29.03.2011

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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