Dem schlichten Sein – dem Gras, dem Regen, dem Hund – stellt Harter oft Virtualität gegenüber, die „suchanfrage“, den „touchscreen“, den „algorithmus“. Durch die selektive Wahrnehmung der „User“ in ihren Filterblasen scheint die materielle Welt seltsam entwirklicht – als würde die Abgelenktheit des Menschen den Realien die Substanz entziehen, als würde die Welt ohne die Empathie des Menschen dahin- und verschwinden. Dabei besitzen die zahlreichen, oft aus dem Technischen in die Alltagssprache eingewanderten Anglizismen eine vitalere Aura als die deutschen Worte. Im Gedicht „#catporn“ heißt es: „katzenpornos in der timeline, / do it yourself in anzug und krawatte. / bis die lügen sich aus ihren algorithmen / schälen, kocht die milch längst über.“
Das lyrische Ich sucht nach Substanz, ist bemüht, sich den Spiegelreflexen der Welt zu entziehen, den Manövern und Tricks der SEO-Engineers und Digital Prophets, Product Owners und Growth Hackers – oder wie immer sie heißen. Heterogenste Eindrücke treffen aufeinander, legen die Bruchstellen des Alltags offen. So im Gedicht „googeln, verb“: „wie schnell altert: leder. / die suchanfragen schälen / sich aus den sätzen / oder umgekehrt.“ Nichts ist, wie es scheint, und nichts bleibt, was es gewesen ist. Das Gedicht schließt mit den Versen: „wie schnell altert: das vorhaben. / wie schnell schmilzt: erdbeereis. / wie schnell stirbt: ein vers?“.
Der Wandel ist Konstante. Nur gelegentlich entsteht eine durchgängige Binnen-Handlung, wie in „clubs XXL“, wo der Zauber des Nachtlebens im Morgengrauen verglüht: „in leuchtschrift: die nacht ist jung / halbherzig blitzen die ausweise / die taschen bergen ihr geheimnis / unbehelligt die bässe tief drin / fallen die letzten hüllen des großraumbüros. // die augen verkleben ohne unterlass / erodiert dieser im kalender verschwiegene / abend, das knallen in den köpfen / rückt näher blitze hinter den lidern / die schreie nehmen fahrt auf. // mit einem schlag / altert / die nacht / fällt / ab.“ Dennoch verrät Harter nie zu viel, sondern schafft ein den Leser lockendes, poetisches Geheimnis.
Auch Poetologisches wird reflektiert, das Ringen um eine unverbrauchte neue Form, die den hohen Ansprüchen genügt. In „allianzen“ heißt es: „grundlos abgeschlagen / balancieren die worte / unter der baumgrenze. // im blick den wegweiser / am rand ausgetretener pfade: / achtung! leuchtturmprojekte in arbeit. // unabwendbar die zersiedelung / eingeübter vorschläge.“ Auf Reisen nach Südosteuropa, nach „prishtina“, „beograd“ und „sarajevo“, begegnen Zivilisationsmüll und der Staub der Gassen, die Armut und der Charme des Unvollkommenen, wie in „prishtina“: „abschüssig die möglichkeiten / verzweigt unter brüchigen planen, / platanen, linden / blüten in asphalt / ritzen.“ Im Sprachspiel der Autorin reimt sich Versprechen auf Verbrechen, Abtreibung auf Abreibung und Tanga auf Taiga.
Aber some things never change, könnte man sagen, manches ändert sich nie, wie im Gedicht „sommer, immer“. Kurz und humorvoll fasst es die Mutprobe jeder beliebigen Jugend der letzten hundert Jahre – nämlich im Freibad vom Fünfmeterturm zu springen – in Verse: „am rand des fünfmeterturms / scheiden sich die geister. / springen oder / fallen?“