#Sachbuch

Kathrin Röggla

Iuditha Balint, Tanja Nusser, Rolf Parr (Hg.)

// Rezension von Hildegard Kernmayer

Wollte man einen Kanon der neuesten deutschsprachigen Literatur festlegen, so wären die Texte Kathrin Rögglas fraglos zu diesem zu zählen. Die seit fast drei Jahrzehnten in Berlin lebende gebürtige Salzburgerin ist unter Leser*innen, Radiohörer*innen und Theaterbesucher*innen längst kein Geheimtipp mehr, sondern mittlerweile eine der meist rezipierten deutschsprachigen Autor*innen der Gegenwart. Dass sich auch die Literaturwissenschaft mit dem Schreiben Rögglas beschäftigt, scheint nur folgerichtig. Mit dem Band Kathrin Röggla widmet nun die edition text + kritik der Vizepräsidentin der Akademie der Künste in Berlin, die seit 2015 auch Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt ist, quasi eine literaturwissenschaftliche ‚Personale‘. In dieser wird das umfangreiche und sowohl generisch wie auch medial heterogene Werk der Autorin erstmals einem systematisierenden Blick unterworfen.

Der vielfältigen Produktion Rögglas, die im Bereich des Fiktionalen ebenso angesiedelt ist wie im Dokumentarischen, die Dramen, Hörspiele, Filmarbeiten ebenso aufweist wie Romane, Erzählungen oder Essays, nähern sich die drei Herausgeber*innen des Bandes Iuditha Balint, Tanja Nusser und Rolf Parr aus drei Richtungen: Sie ordnen die 18 Beiträge – wohl auch ausgehend von ihren jeweils eigenen Forschungsinteressen – in drei Abschnitten an, in denen erstens Fragen nach der oft ungewissen Generizität der Texte vor dem Hintergrund literarischer Traditionslinien verhandelt werden; zweitens nach den in den Texten entwickelten poetischen Verfahren; sowie drittens nach deren thematischem bzw. diskursivem Bezugsrahmen gefragt wird. Dass diese Unterteilung an Trennschärfe verlieren muss, sobald sie mit Rögglas Schreiben selbst konfrontiert wird, liegt in diesem Schreiben selbst begründet. Denn gerade bei Röggla lassen sich poetische Verfahren kaum losgelöst von Fragen nach der Generizität der Texte untersuchen, danken sich die ästhetischen Effekte häufig dem Spiel der Autorin mit Gattungen, deren Grenzen sie systematisch und lustvoll überschreitet. Und auch Rögglas dokumentarische bzw. pseudodokumentarische Verhandlungen der Gegenwart konstituieren sich gerade aufgrund der darin praktizierten poetischen Verfahren als ästhetische Ereignisse, die das alltagssprachliche Artikulationsdefizit überwinden und nicht mehr nur ’sagen‘, sondern vor allem ‚zeigen‘. Nicht von ungefähr entwickelt die Autorin etwa eine poetische „Grammatik der Ausnahme“ (Lewandowski, S. 54ff.), wenn sie in ihren Texten die „Gegenwart als Ausnahmezustand“ (Nusser, S. 219ff.) verhandelt.

Dieser Einwand gegen den Aufbau des Bandes mag literaturwissenschaftlicher Beckmesserei geschuldet sein und ist wohl ebenso vernachlässigbar wie die Aussage eines anderen Rezensenten, wonach das vorliegende Unternehmen in die ‚Konferenzbandfalle‘ (Wiener Zeitung) gegangen sei. Denn tatsächlich leistet der Band Wesentliches: Iuditha Balint, Tanja Nusser und Rolf Parr ist es gelungen, die Ergebnisse der bis dato eher verstreut agierenden Röggla-Forschung zusammenzuführen und darüber hinaus das breite inhaltliche und formale Spektrum sichtbar zu machen, in dem sich Rögglas Schreiben bewegt. Der Band fokussiert nicht nur den vielinterpretierten transgenerischen Bestseller wir schlafen nicht oder really ground zero, Rögglas ‚Prosaprotokoll‘ über die Ereignisse des 11. September, das die breite öffentliche Wahrnehmung der Autorin und ihrer Texte begründete, sondern lenkt den Blick auch auf neuere, mitunter weniger bekannte Arbeiten. Vor allem den von der Literaturwissenschaft bislang eher vernachlässigten transmedialen Arbeiten, wie etwa tokyo, rückwärtstagebuch, das Röggla gemeinsam mit dem Bildenden Künstler Oliver Grajewski gestaltet hat, von dem auch die Zeichnungen zu Rögglas „Risikonarration“ (Sieg, S. 238) die alarmbereiten stammen, oder auch die Fernsehdokumentation Die bewegliche Zukunft sind im Band eigene Beiträge gewidmet. Das Drama NICHT HIER oder die kunst zurückzukehren, das die Probleme von zivilen Einsatzkräften nach ihrer Rückkehr aus diversen Krisengebieten thematisiert, sowie worst case, der dramatische Ausgangstext der alarmbereiten, oder auch Kathrin Rögglas und Leopold von Verschuers Texthybrid Publikumsberatung werden im Band ebenso behandelt wie die zahlreichen poetologischen Essays der Autorin.

Bei aller Diversität der behandelten Ausgangstexte sowie der literaturwissenschaftlichen Zugänge zieht sich doch ein Thema wie ein roter Faden durch den Band, nämlich die Frage nach der Fiktionalität oder Faktualität von Rögglas Arbeiten bzw. nach deren dokumentarischen Qualitäten. Tatsächlich insinuieren Rögglas literarische Befunde des Gegenwärtigen, die häufig in nichtfiktionalen Schreib- und Sprechweisen, wie dem Interview, dem Protokoll, dem Bericht, der Dokumentation oder dem Tagebuch erfolgen, selbst eine Nähe zum ‚Realen‘, ‚Authentischen‘, ‚Faktualen‘. Dass diese Nähe jedoch nicht aus einem mimetischen Verhältnis von Text und außerliterarischer Realität resultiert, wird in nahezu allen Beiträgen des Bandes, die in ihrer Gesamtheit auch einen fundierten Beitrag zur Realismus-Debatte in der Literatur darstellen, deutlich. Basierend auf Jürgen Links Überlegungen zum Realismus als Verfahren liest etwa Rolf Parr Rögglas Texte als „literarisches Spiel mit […] Verfahren, die Realismus-Effekte“ selbst hervorbringen und Röggla eine eigene Position „zwischen Fiktionalisierung der Realität und Literarisierung des Medialen“ (Parr, S. 194) sichern. Ähnlich argumentiert auch Eva Kormann, die Rögglas hochgradig geformte Texte als „ein ästhetisierendes und gesellschaftskritisches Spiel mit Aspekten der Gegenwartsrealität“ (S. 141) ausweist. Michael Navratil wiederum fokussiert in der Frage die narrative, mediale, digitale Geformtheit und diskursive Zurichtung der ‚Realität‘ selbst, die Röggla in ihren Texten vor allem in den Blick nimmt. Die Autorin wende sich also in „einem fiktionalen Medium einer gesellschaftlichen Realität zu, die selbst bereits in hohem Maße durch Fiktion, Erfindung, Camouflage“ (S. 150), vor allem jedoch durch eine sprachliche Ordnung strukturiert ist und sich als „faktual-fiktionales Hybridisierungsphänomen“ darstellt, als ‚Uneigentliches‘, hinter dem sich allerdings nicht ein „etwaiger prädiskursiv-materieller Realitätswert“ (S. 152) verbirgt, sondern letztlich nur eine ‚Leerstelle‘, die im Prozess der Diskursivierung und Mediatisierung beliebig mit variablen Bedeutungen befüllt wird.

Der äußerst aufmerksam redigierte und lektorierte Band ist mit großem Gewinn zu lesen und bereichert fraglos die Röggla-Forschung. Dass im Band auf eine nützliche Handreichung für diese, nämlich auf eine umfassende Forschungsbibliographie verzichtet wird, mag als kleines Manko genannt werden. Vielleicht ist es aber auch nur als eine implizite Aufforderung zu verstehen, diese im Kritischen Lexikon der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur aufzusuchen, das ja ebenfalls in der edition text + kritik erscheint.

Iuditha Balint, Tanja Nusser, Rolf Parr (Hg.) Kathrin Röggla
Sachbuch.
München: edition text + kritik, 2017.
359 S.; brosch.
ISBN 978-3-86916-543-1.

Rezension vom 24.04.2019

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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