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Karl und das zwanzigste Jahrhundert

Rudolf Brunngraber

// Rezension von Markus Köhle

Dem Milena-Verlag ist es zu verdanken, dass ein zu unrecht in Vergessenheit geratener, hervorragender Roman wieder greifbar ist. In der Reihe „Revisted“ wurde Rudolf Brunngrabers Debüt Karl und das zwanzigste Jahrhundert neu aufgelegt und mit zusätzlichen Informationen versehen.

Im Anhang befindet sich etwa eine „Autobiographische Skizze“ aus dem Nachlass Brunngrabers, die aber bereits um 1937 verfasst wurde. Dieser ist zu entnehmen, dass Brunngraber zweimal Europa durchwanderte und unter anderem als Fabrikarbeiter, Elfenbeingraveur, Kinogeiger, Hotelgeschirrwäscher, Zeitungsverkäufer, Steinbruchtaglöhner, Hafenarbeiter und Holzfäller arbeitete. Der Lehramtsberuf „für den ich unter beträchtlichen Drangsalen studiert hatte“ (S. 262) auszuüben, ging sich aber nie aus, da Brunngraber vom Krieg aus der Bahn geworfen wurde. Er war schon kurz davor, es auf die kriminelle Tour zu versuchen, als Zeichnungen von ihm entdeckt wurden, Mäzene ihn umsorgten, unter der Bedingung, einen Maler aus ihm machen zu dürfen. Brunngraber besuchte eine vierjährige Malschule, studierte nebenbei Nationalökonomie und schrieb gleichzeitig sein erstes Buch „Karl und das zwanzigste Jahrhundert“. Der Roman erschien 1932 und war ein großer Erfolg, aus dem verhinderten Lehrer und prädestinierten Maler entpuppte sich ein Schriftsteller, dessen Erstling bis ins Japanische übersetzt, aber auch in Österreich gelesen wurde. „Karl und das zwanzigste Jahrhundert“ erschien zuerst im Zentralorgan der SDAP, der Arbeiter Zeitung. „In Österreich erhielt das Buch eine Auszeichnung und wurde im Jahr darauf in Deutschland von der Gestapo verboten. Rowohlt ließ sich dadurch nicht stören und brachte drei Jahre später den Roman Radium. Ein Welterfolg“. (S. 266f.) Diese autobiografischen Informationen seien vorangestellt, da Ähnlichkeiten mit dem Protagonisten im „Karl…“ vom Autor bewusst nicht verschwiegen wurden.

Beschrieben werden die Jahre 1880 bis 1931 und zwar einerseits auf der Ebene eines wirtschaftsgeschichtlichen Querschnitts der Modernen Welt und andererseits auf der persönlichen Ebene, dem Schicksal einer Familie in Wien. Karl Lakner heißt der Held der Geschichte. Eine Zangengeburt aus dem Jahre 1893, Sohn einer Dienstbotin und eines Maurergehilfen. Armut, Hunger, Suff und Elend prägen die Gegenwart, doch Karl kämpft sich, obwohl zusätzlich äußerlich entstellt, hoch, arbeitet und lernt was nur geht, um den Verhältnissen zu entkommen. Mit Talent und Ehrgeiz gelingt dies. Schon früh entdeckt er seinen Hang zum Malen und wird später zum Vielleser.

„Das kleine Weib sah damit gern den Malrummel abflauen, denn sie hatte sich schon die Sorge gemacht, ihr Junge könnte zu einem Künstler heranwachsen, zu einem Menschen also, der seine Eltern nicht ehrt und dermaleinst standesgemäß verhungern muß.“ (S. 34f.) Damit ist viel gesagt. Das „kleine Weib“ ist übrigens die Mutter, die das ganze Buch hindurch so bezeichnet wird und wir befinden uns im Jahr 1900, „im Jahr des höchsten Reallohns aller Zeiten.“ (S. 35) Brunngraber beschreibt den „Geist der neuen Zeit“, erläutert, wie sich aus dem System der Neuzeitlichen Betriebsführung die Wissenschaftliche Betriebsführung (Scientific Managment) entwickelte, zeigt große Zusammenhänge auf und belegt Veränderungen mit Zahlen, Zitaten und Beispielen. „Von allen Völkern der Erde hat das unsere die Zukunft für sich!, rief im April 1894 der beleibte Abgeordnete Theodor Roosevelt, the most dynamic man of the United States.“ (S. 21)

Die Bewirtschaftung der Rohstoffe, die Bildung von „Trusts“, aus denen dann die Kartelle und weltumspannenden Konzerne hervorgehen, macht Brunngraber ebenso zum Thema wie das alltägliche Überleben im 5. Bezirk in Wien. Er stellt gegenüber, bringt in Verbindung und weist darauf hin, dass seine Protagonisten von all den großen Zusammenhängen nichts ahnen. „Das kleine Weib nahm wieder eine Haue und ging in die schrägen Weinberge mit und der kleine Kerl rutschte im Hof zwischen den Hühnern umher, Japan führte gegen China seinen ersten imperialistischen Krieg, in Amerika begann man elektrisch zu pflügen, elektrisch zu rechnen und elektrisch zu heizen.“ (S. 26) Während Karl zum Kofferträger in seiner Gasse wird und der organisierte Betrieb, der dadurch anhob, ihn erstmals auf volkswirtschaftliche Überlegungen brachte, bereicherte sich die Welt in diesen Tagen (1904-1905) „um den Offsetdruck und den Kreiselkompaß, um die Gasturbine, die Zenitkamera und den extraperitonealen Kaiserschnitt, sie ließ einen Registrierballon in 26.000 Meter Höhe steigen und eröffnete feierlich den Simplontunnel.“ (S. 46)

Daneben – und das macht das Buch so vielschichtig gut – verfolgen wir aber immer auch die Entwicklung des Helden, der beispielsweise, auch das muss sein, das andere Geschlecht kennen lernt. „Dies war in Wahrheit das inhaltsschwere Wort, das mit einemmal da war. Und Karl konnte das Wort nicht ohne einen dunklen Schauder denken. Es umfaßte zu Ungeheures. Welch Wirrsal:“ (S. 48) Ja, Karl hat das Pathos entdeckt und Brunngraber lässt pathetisch schwülstige Formulierungen ebenso gekonnt in den Text einfließen wie avantgardistisch Verdichtetes. Während man also einerseits das Heranwachsen Karls verfolgt, zeichnet Brunngraber andererseits klar und deutlich, dass die Welt drauf und dran ist, sich in den vermeintlichen „Gesundbrunnen des Volkes“, den Krieg, zu verlaufen. Auch Karl konnte sich dafür begeistern. Der Irrglaube, dass ein moderner Krieg nicht länger als einige Monate dauern könne, bestärkt ihn und viele andere darin. Bald jedoch beschleicht sie die Erkenntnis, dass „ihre Phantasie vom Krieg, wie jede Phantasie, nicht einmal einen Berührungspunkt mit der Wirklichkeit gehabt hatte.“ (S. 91) Der Krieg hat nichts mehr zu tun mit der „Ästhetik eines Dragonerhelms“, sondern nur mehr mit „grauenhaften Blessuren“. Dennoch versah Karl seinen Dienst. „Er erfüllte seine Pflicht sozusagen über jede Eventualität hinaus und um so peinlicher, je mehr ihn das blinde Entsetzen schüttelte und je verächtlicher er sich vorkam.“ (S. 98)

Karl sammelt Militärverdienstkreuze, die internationale Rüstungsindustrie lässt sich selbst vom Krieg nicht zerreißen und gedeiht prächtig. „Das Haus Krupp hatte bis zum Jahr 1911 53.000 Kanonen hergestellt, aber nur 26.000 an Deutschland verkauft, die übrigen 27.000 an 52 verschiedene Staaten.“ (S. 115) Auch Karl verdient ausreichend, um seine Mutter versorgen zu können. Doch auf Krieg folgte Inflation, Wirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit, Hunger und erneut höchste Armut. Die sachlichen Darstellungen, ohne viel Psychologie aber mit Zahlenmaterial und Fakten, machen die Gesamtgeschichte nur noch tragischer.

Bemerkenswert an diesem Buch ist unter anderem auch die Recherchearbeit, die darin steckt. Brunngraber, so ist der Buchinformation zu entnehmen, wurde vom Philosophen Otto Neurath zu diesem Roman angeregt, „der in Hinblick auf die soziale Frage, das Massenelend und die Arbeiterschaft erstmals die Bedeutung statistischen Materials ins Blickfeld gerückt hatte.“ Dieses (zu jener Zeit) nicht nur zu beschaffen, sondern zu sichten und zu verdichten ist die große Kunst dieses Romans, die vielleicht durch folgendes Zitat zu Brunngraber etwas erklärlicher wird: „Er war kein Zyniker, er war gegen Heuchelei und für Wirklichkeit und Präzision. Er war gegen jede Art von metaphysischem Bordell. Er war ungeheuer nüchtern und dennoch pathetisch im Sachlichen. Er konnte lächerlich analytisch sein.“, ist einem im Anhangs-Dossier abgedruckten Tagebucheintrag aus dem Jahre 1960 von Kasimir Edschmid zu entnehmen. (S. 266)

In Karl und das zwanzigste Jahrhundert werden die großen Zusammenhänge und Zwänge von Wirtschaft und Politik aufgezeigt und analysiert sowie die Auswirkungen derselben anhand eines Menschenschicksals exemplifiziert und das alles zu einem Zeitpunkt, in dem noch längst nicht von Globalisierung die Rede ist. Die Versiertheit Brunngrabers im Ziehen der unterschiedlichsten sprachlichen und formalen Register macht diesen Roman trotz seiner thematischen Schwere zu einem erhebenden Lektüreereignis.

Rudolf Brunngraber Karl und das zwanzigste Jahrhundert
Wiederauflage des Romans von 1932.
Wien: Milena, 2010.
300 S.; geb.
ISBN 978-3-85286-190-6.

Rezension vom 05.08.2010

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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