#Lyrik

Kanzlerreste

Gerhard Ruiss

// Rezension von Sabine Schuster

Vom Schweigekanzler bis zum Schattenkanzler – verdichtete österreichische Politik von Gerhard Ruiss

17 Jahre nach den Kanzlergedichten und 6 Jahre nach den Kanzlernachfolgegedichten ist nun der dritte und letzte Band der Reihe erschienen: Kanzlerreste. Das Kanzlerneueste. Fast ein Vierteljahrhundert hat der Autor Gerhard Ruiss dichtend mit den politischen Entwicklungen innerhalb und außerhalb Österreichs zugebracht, insgesamt 726 Gedichte und Lieder sind dabei entstanden.

Vor welchen Hintergründen, ist in Begleittexten, Marginalien und Personenregistern in den jeweiligen Bänden festgehalten, in denen die politische, poetische und gesellschaftliche Lage erörtert wird: „Kanzlergedichte waren und sind keine politischen Gedichte im üblichen Sinn (…), sie sind nur das, was zum Vorschein kommt, wenn man dem Dargestellten und Ausgeführten nähertritt“, so Ruiss, der im aktuellen Band auch seine verlegerische Quartiergeberin in der Edition Aramo, die Lyrikerin Sylvia Treudl, als Kanzlergastdichterin eingeladen hat. Ihre sehr gelungenen, humorvollen Beiträge finden sich in Kapitel 11, ein Gedicht auch in unserer Leseprobe.

Eine Vorbemerkung zur politischen Lage und ein Schlusswort zur gesellschaftlichen Lage umrahmen die Gedichte in freier Form, die thematisch in zwölf Abschnitte gegliedert sind, schlichte schwarze Seiten dazwischen markieren die Übergänge. „Antritt. Antrieb“, „Querschüsse“, „Fortschritt“, „Außeneinflussnahmen. Außenkontakte“, „Begleiterscheinungen“, „Einbrüche. Umbrüche. Anwürfe. Umstürze“ – Gerhard Ruiss bewegt sich durch Ereignisse und Themen von Politik und Gesellschaft wie einst der fahrende Sänger Oswald von Wolkenstein, dessen Lieder er parallel zur Entstehungszeit der Kanzlergedichte überarbeitet und in mehreren Bänden als Nachdichtungen herausgegeben hat, gedruckt im Folio Verlag und zuletzt auch auf der CD Gassenhauer (2021).

Von den mittelalterlichen Hof- und Spottgedichten über Agitprop-Literatur bis zu Ruiss‘ heutiger politischer Dichtung ist es auch gar nicht so weit, wie der zeitliche Abstand nahelegen würde, zumindest in der Wahl der Themen, gleichen sich doch die politischen (Un-)Sitten über die Jahrhunderte auf verblüffende Weise. Lernt die Politik hier etwa doch aus der Geschichte – oder gerade nicht? Die Kanzlergastdichterin formuliert es so:

„(…) : beim cheerleading / am wahlabend / bommel schwenk & hoch den arsch! / denn wir haben gelernt / : nicht aus der geschichte / aber / von den bunten bildern / aus anderswo.“ (150)

Den Anstoss zu Ruiss‘ überaus dauerhafter Rolle als politischer Kommentator gab einst Wolfgang Schüssel, der „erste Kanzler in der österreichischen Geschichte, der sich vom Wahldritten zum Wahlsieger machte“ und dann zum sogenannten „Schweigekanzler“ mutierte. Am Ende der Trilogie steht Sebastian Kurz – jener Vertreter einer ganz neuen Kanzlergeneration, der nach zwei halbfertigen Legislaturperioden noch kurze Zeit als „Schattenkanzler“ weiterregierte, bevor er sich überraschend schnell ganz aus der Politik zurückzog. „Das Narrativ“, das Geschichten-Erzählen, das in dieser Periode zum wichtigsten Instrument der Verwirklichung politischer Pläne wurde, bekommt in den Kanzlergedichten ein lyrisches Gegenüber mit durchaus hehrem Anspruch: „Die Kanzlerreste. Das Kanzlerneueste sammeln die Rückstände ein, den Datenstaub, das unleserlich Gemachte und bis zur Unkenntlichkeit Zerredete.“ (7)

Wie es nun wirklich klingt, wenn Gerhard Ruiss politischen „Datenstaub“ neu zusammensetzt, ihn nocheinmal aufwirbelt, ihn sanft schweben oder rasant fliegen lässt, das zeigt Ihnen die Gedichtauswahl in unserer .

Kanzlerreste. Das Kanzlerneueste.
Kanzlergedichte 2018-2023.

Wien: Edition Aramo, 2023.
189 Seiten, broschiert.
ISBN 978-3-9519932-9-4.

Rezension vom 21.03.2023

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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