#Lyrik

Kanzlergedichte 2000-2005

Gerhard Ruiss

// Rezension von Kristina Werndl

Oft haben diejenigen die ganz großen Rollen, die genau das nicht tun, was man von ihnen in ihrem jeweiligen Umfeld erwartet: Bassa Selim singt keinen Ton, obwohl er am Opernparkett steht, und Wolfgang Schüssel schweigt sich auf der innenpolitischen Bühne aus – was ihn nicht daran hindert im Ausland, in Berlusconis Bella Italia, den Mund voll zu nehmen. Letzterem, dem Schweigekanzler und derzeitigen EU-Präsidenten, der mit seinem Vornamen am Ruhm des Jahresregenten Mozart mitnaschen darf, hat Gerhard Ruiss eine Gedichtsammlung gewidmet.

Die Kanzlergedichte 2000-2005 sind ein Auftragswerk der Edition Aramo, wo man sich durch die Kür der Wörter „Schweigekanzler“ und „Kanzlerin“ zum österreichischen bzw. deutschen Wort des Jahres 2005 dazu angeregt fühlte. Zum Satz des Jahres erhoben wurde übrigens „Österreich ist frei!“, jenes berühmte Diktum Leopold Figls, das im staatsvertragsseligen Jubiläumsjahr allerorts zu hören war. Damit ist bereits jener tages- und weltpolitische Humus genannt, dem Ruiss‘ Gedichte entspringen.

Die Mehrzahl der Gedichte ist in freien Versen verfasst; topographisch reichen sie von Amerika bis in den Nahen Osten, ihren Schwerpunkt aber haben sie in Österreich, in der hiesigen politischen Landschaft. Und diese Österreich-bezogenen Gedichte sind auch die besten des Bandes. Oberflächlich betrachtet recht simpel gestrickt, entwickeln sie ihren Hintersinn und ihre Komik oft durch das Formprinzip der Kombinatorik. Iteration und Permutation gelangen zum Einsatz, das Wortinventar der Eingangsstrophe wird durcheinander geschüttelt und in den Folgestrophen neu gereiht, geringfügig verändert, ergänzt.

und schon:
wieder eine rede an die nation
und schon:
wieder eine rede an die lage zur nation
und schon:
wieder eine rede in der lage zur nation
und schon:
wieder jemand in der lage
zu einer rede aus der lade
zur begegnung mit der nation.

Komische Effekte entstehen durch die Nicht-Erfüllung der Lesererwartung, beispielsweise indem am Gedichtende das formal zu Erwartende ausbleibt. Ruiss‘ sprachkritischer Ansatz lässt einen zuweilen an Ernst Jandl denken, dessen Gedichte sich ebenfalls durch ein großes Maß an Komik auszeichnen. Die Gedichte im Kapitel „volksnah“ dagegen erinnern eher an die Dialektgedichte H. C. Artmanns.

Geht die spielerische Kombinatorik in Ruiss‘ Texten auf, dann entsteht ein kritischer Impetus, der zeigt, dass die scheinbare Ordnung der Welt mit einer Neuordnung der Worte zu erschüttern ist; und geht die Welt auch nicht aus den Fugen, so werden die Lügen der Politik doch als solche dekuvriert und die parteipolitischen Slogans der Lächerlichkeit preisgegeben. Das ist immer amüsant zu lesen, erfordert jedoch eine gewisse Vertrautheit mit der österreichischen Kultur und Geschichte. Ohne dieses Naheverhältnis kann man Ruiss‘ Texte nicht wirklich genießen. Etwa wenn es da im Gedicht „regierungsbestellung“ lapidar und vernichtend heißt: „mit neuem personal / dasselbe / noch einmal.“ Im Miniatur-Gedicht „unser wort“ wird in drei Zeilen die Tugend des Worthaltens invertiert – es sprechen die Amtsinhaber: „wir halten unser wort / ganz fest / niemand kriegt’s.“ Von diesem Kippeffekt vom Positiven ins Negative leben viele der Gedichte.

Gerhard Ruiss selbst klassifiziert seine Texte als Agitprop, engagierte Literatur, Spottdichtung, Hofdichtung. Das ist zweifellos zulässig, mit der Ergänzung, dass die Hofdichtung unversehens zur Spottdichtung mutiert. Denn Ruiss ist ein fahrender Sänger, der es sich nirgendwo, bei keinem Herrn, gemütlich macht. Er zeigt, wie politische Dichtung abseits von Wolf Martin (In den Wind gereimt) aussehen kann. Gewitzt aktualisiert und verfremdet er zur Diskussion stehende politische Schlagworte. Zum Beispiel wenn er „Minderheitenrechte“ titelt und dann im Gedicht folgende Frage nach dem Zustandekommen des ersten Schüssel-Kabinetts stellt: „hat eine mehrheit eine minderheit gewählt / damit eine minderheit eine mehrheit regiert?“

Seine Texte sind literarisches Salzgebäck, bei dem man sich üblicherweise nicht mit einer kleinen Menge zufrieden gibt. Ohnehin empfiehlt es sich, die für sich allein mitunter etwas simplen Gedichte in größerer Anzahl zu konsumieren – durch den thematischen Kontext werden sie unbedingt bereichert. Ein durchgängiges Charakteristikum der Gedichte ist, dass sie ganz nahe am Zeitgeschehen sind. So wird der nunmehrige BZÖ-Parteiobmann Jörg Haider im „schlafliedjodler“ nicht in seiner Lieblingsrolle als glanzvoller Wahlsieger vorgeführt, sondern als Schlaftablette; was mit einer couragierten Invocatio einsetzt, tröpfelt in einer Jammerbekundung aus:

je öh er gel
jö eh gel gell
ojö gel gellts
ojögerl gell

Man würde diese Zeilen nicht ungern von Hubert von Goisern vertont hören. Die (gefühlte) Kleinheit Österreichs, die Mentalität seiner Bewohner, das Gedenkjahr, die Malaisen beim ORF, die Vogelgrippe, die Sparrhetorik, die Fertilitätsdebatte – all das findet sich in Ruiss‘ Gedichten wieder, die sich an Österreich und seinen verlorenen Kindern (Arnold Schwarzenegger) abarbeiten. Die wenigen Texte zur transatlantischen Seinslage und die „Fußnoten“-Gedichte zu Zeitungsbildern und -meldungen überzeugen weniger.

Abschließend kann man Folgendes festhalten: Dass einem Schweigekanzler so viele beredte Gedichte gewidmet sind, ist fast schon zu viel des Guten; da diese Kanzler-Gedichte aber nicht zu viel des Guten von ihm übrig lassen, ist es so gesehen schon wieder eine gute Tat.

Kanzlergedichte 2000-2005.
Gedichte.
Wien: Edition Aramo, 2006.
207 Seiten, broschiert, mit Abbildung.
ISBN 3-9502029-3-5.

Rezension vom 10.04.2006

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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