Die Saligen, so klärt uns das hinten angehängte Glossar auf, das ist eine Dreiheit von sagenhaften weißgewandeten Frauengestalten, sie helfen den Älplern und sie strafen sie, haben die Jahrtausende in magischen Erzählungen und in den Namen mancher Berge bis heute im kollektiven Gedächtnis überdauert und erinnern an eine weit entfernte matriarchal geprägte Zeit. Dieser haucht Seisenbacher nun wieder Atem ein, manchmal eisigen, manchmal wohlig warmen, sie bringt die Zeit zurück und bringt gleichzeitig uns, die wir uns ungeahnter Wurzeln entsinnen, dorthin zurück. Bald entschlüsselt sich in den Gedichten die raue, kalte Atmosphärik, verrät sich erst nur zögerlich, tarnt sich mit vorerst fremden Wörtern. So wie auch beim titelgebenden Wort tut sich erst nach und nach die Tragweite der Begriffe auf, gibt erst die Einbeziehung des Wortverzeichnisses am Ende des Gedichtbandes mehr über die Eiswüsten der alpinen Gletscherwelt preis. „Kalben“, lernen wir, ist das „nahezu senkrechte Abbrechen von Eismassen eines Gletschers“. So bildlich dieser Begriff ist, so sehr ist er beinahe auch hörbar. Worte wie „wegbrechen“, „fließen“, „pochen“, „schlagen“, „knarren“ und „singen“ tragen fast unmerklich zu einer unsichtbaren Klangkulisse der Gedichte bei und noch bevor die beigelegte CD das ihrige tun kann, sind die Gedichte schon laut. „Ich bin nie dort, wo mein Herz mich schlägt“ knarrt, pocht und fließt. Und trotzdem – so laut die Natur hier auch sein mag, so sehr transportieren die Gedichte zugleich die unheimliche Stille in ihr, in die hinein die abrutschenden Eismassen noch lauter in den Ohren dröhnen.
Auch die Vertonung der 3 knaben schwarz spielt mit dieser immer wiederkehrenden Stille, in die hinein die unerwarteten Geräusche mal sanft, mal lauter zwischen die von Maria Seisenbacher selbst gelesenen Gedichte tönen. Manchmal ist die Musik bloß Kulisse, manchmal übernimmt sie selbst die Führung. Die Melodie, die hauptsächlich die Klarinette vorgibt, ist meistens improvisiert und wird getragen von „transakustischem Gerümpel“, einer E-Gitarre, einer Zither und einer Violine. Die Gedichte lassen sich auf diesem eisigen Klangteppich erlauschen, Seisenbachers Stimme ertastet vorsichtig den Rhythmus der Worte, die Stimmung changiert von bedrohlich zu beinahe fröhlich. Mit der akustischen Untermalung ist es geradezu, als sammle sich eine innere Kraft in den Worten, als steigere sie sich von Stück zu Stück, wie auch die Kraft des Eises sich so lange steigert, bis es senkrecht abrutscht. Durch die Bebilderung von Matthias Schmidt lassen sich die Gedichte nicht nur lesen und hören, sie lassen sich auch sehen. Die in Hellblautönen gehaltenen Grafiken von Gletschern, manchmal auch von in die Tiefe stürzenden Eismassen vervollständigen unsere innere Vorstellung dieser alten Tage unter der Vorherrschaft der Saligen, der nebligen Landschaften, der Menschenleben in den Alpen im Rhythmus der Jahreszeiten, im Einklang mit der Gewalt der Natur. 3 knaben schwarz machen schließlich, dass sich diese Gewalt manchmal auch zart, manchmal lieblich vernehmen lässt – immer aber im Einklang mit den von Seite zu Seite an Bedeutung gewinnenden Worten, die ein in sich geschlossenes Bild einer alten, lange vergangenen Welt zeichnen.
Aus Maria Seisenbachers Publikationsvergangenheit wird rasch ersichtlich, dass sie sich nicht zum ersten Mal auf ein Terrain begibt, das zuvor noch kaum begangen wurde. Nach ihrem Gedichtband Konfrontationen, in dem sie gemeinsam mit Hermann Niklas die Lyrik als Kommunikationsform ausprobiert, kreist der Band bher[a] um die indogermanische Wurzel des Wortes „gebären“ und somit um die Geburt als Phänomen des „Einen-Anfang-Setzens“. Starke Bezüge zur Natur und der dahinterstehenden Kraft zeichnen sich auch hier ab und lassen kalben gewissermaßen in einer Reihe mit der bisher veröffentlichten Lyrik stehen. Diese Kraft mag man als Unheimliches auslegen, man kann sie aber auch einfach als Widerklang, als Nachhall der Naturphänomene wahrnehmen. In kalben erkunden wir die Wurzeln dieses Unheimlichen, fühlen beim Lesen deutlich die Furcht vor der Natur, die einst die Saligen und andere mystische Gestalten erweckt haben mag. „Sag/ glaubst du der anderen Kraft/ wenn der Wind kühl vom Berg zieht/ das Wasser dunkel werden lässt/ und jeder Sommer verloren ist“, fragt uns die Poetin herausfordernd. Sie lässt uns mit ihren Gedichten ebendiese Furcht wieder durchleben, eine Furcht, eine Kraft, die uns irgendwie bekannt vorkommt. Haben wir uns doch heute von der Kraft der Natur so gut wie möglich abgesetzt, unabhängig gemacht, haben sie so gut es nur geht aus unserem Leben verbannt. Und doch, immer mal wieder bahnt sie sich ihren Weg hinein in die moderne Welt. Dabei können wir nur ahnen, wie machtvoll sie einmal gewesen sein mag. Die Natur, diese zutiefst weibliche Macht, die in längst vergessenen Worten im kollektiven mündlichen Gedächtnis festgehalten war. Nun findet sie durch Maria Seisenbachers Lyrik endlich ihren Weg aus dem mystisch Unheimlichen und oral Überlieferten in das Geschriebene.