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Kalamata

Ernst Wünsch

// Rezension von Andreas Tiefenbacher

In Familien, die über Besitz verfügen (zum Beispiel eine Limonadenfabrik), werden Ambitionen der Nachkommenschaft, als Künstler leben zu wollen, eher kritisch beäugt, steht doch hier eindeutig im Vordergrund, dass man etwas wird. Und damit ist gemeint: Jurist oder Architekt, oder wenigstens Lehrer oder Baumeister, aber sicher nicht „Kanaldeckelmaler“ oder „Seitengassenliterat“. Deshalb sieht es auch nur im ersten Moment so aus, als ließe sich in traditionsbewusster oder neureicher Umgebung der Vorsatz, „als Künstler ungestört tätig“ zu sein, nicht schwer realisieren. Ihn konsequent zu verfolgen ist aber problematisch. Und erst, wenn es als Schriftsteller darum geht, „die Angst vor dem ersten Satz“ in den Griff zu bekommen.

Leo Kmetko, der schon im 2012 erschienenen Wünsch-Roman Finstern eine Hauptrolle spielt, fällt das (auch wenn er behauptet, einen Roman mit „einer Stärke von 300 Seiten“ in nur 12 Monaten schreiben zu können) alles andere als leicht. Denn jedes Mal, wenn das „Gerangel um den ersten Satz des neuen Prosatextes“ in seinem Kopf losgeht, denkt er sich ein neues Kochrezept aus, das er in konsequenter Weise auch gleich ausprobiert.

Ein solches Ausprobieren wird Andrea Irx, der seinen Vornamen der „exzessiven Italophilie“ seiner Mutter verdankt und einem Hinweis des Ich-Erzählers Kmetko zufolge „die alleinige Hauptrolle in Kalamata spielen wird“, erst gar nicht richtig gegönnt. Als er nämlich mit siebzehn (vom vielen Auf-den-Boden-Schauen dazu inspiriert) in der „naturgetreuen Abbildung von Kanalgittern, Kanaldeckeln, Gullys, Steinplatten & Straßenpflastern“ seine künstlerische Bestimmung erkennt und deswegen im Morgengrauen eine Kreuzungsmitte blockiert, gerät er „in den unentrinnbaren Schwitzkasten der Psychiatrie“.

Erst mit Hilfe von Alexandra Doria gelingt es ihm, sich diesem wieder zu entwinden. Zufällig gehört ihr nämlich ein vom Vater „günstig als Industrieschrott“ erworbener „alter Kontor“ inmitten eines „von den alteingesessenen Einheimischen Kalamata“ genannten „Schilfrohrdschungels“ um einen kleinen Salzsee auf der Ägäis-Insel Kos, der früher zur Salzgewinnung gedient hat und jetzt als Zugvogelrastplatz unter Naturschutz steht. Das als „Mehrzweckatelier“ genutzte Haus des ehemaligen Salinenbüros wird für die beiden zum „Geheimversteck“, „Refugium“, „Paradies & Bunker“. Hier leben sie geschützt „vor Touristen, selbsternannten Kunstexperten & Medienfritzen(…), vor Amtsärzten, Psychiatern & Psychologen (…) von Andreas Pflegegeld, erst seit Neuestem von seinen Bilderverkäufen“.

Diese verdankt Andrea Irx dem mit Ziegenbart, Pferdeschwanz und ausgelatschten Espandrillos herumlaufenden Didi Gastonner, der, nachdem er zehn Jahre lang erfolglos versucht hat die „Aufnahmeprüfungen für Bildhauerei an den diversen Kunstakademien“ zu schaffen und aus dem mit Otto Scher und Leo Kmetko betriebenen Literaturmagazin „Welterbse“ Gewinne zu ziehen, sich mit Gefährtin Dolores (Aussteigerin und Althippie wie er) auch auf Kos niederlässt, wo er in Pili eine Galerie betreibt und infolge eines Fahrradunfalls mit Irx zusammentrifft.

Didi erkennt sofort die Chance, seinen Traum, „ein junges Genie zu entdecken & als dessen Manager mitzunaschen am Kunstmarkt“, zumindest ansatzweise zu verwirklichen; denn jung ist dieser Kerl ja nicht mehr, sondern „ein in die Jahre gekommener Beachboy“. Dass der sich in seiner wilden Zeit hauptsächlich von Mannerschnitten und einem „Cocktail aus Valium 10, Mocambim & Psychopax“ ernährt hat, „streunende Hunde & Ouzo“ mag, über einen wunderbar fiesen Humor verfügt, spindeldürr und aufgrund eines verkrümmten Rückens „im Stehen kaum größer als beim Sitzen“ ist, an Fieberschüben leidet und „mit einer selbst entwickelten Babyöl-Ölkreiden-Kratz-, Misch- & Schmiertechnik“ am liebsten Kanalgitter, Gitterroste von Holzkohlengrillern sowie Gitter über Entlüftungen und geheimen Einstiegen in den Untergrund malt, hält Gastonner nicht davon ab, Irx-Bilder auf Kommission zu übernehmen.

Und wie es der Zufall so will, zahlt ein stinkreicher Londoner Galerist dafür eine beachtliche Summe. Die Idee, durch einen „bibliophilen Kunstband aus dem Hause Welterbse mit Gemäldereproduktionen & Privatfotografien des gesamten Irx-Umfeldes“ eine mit einer möglichen Wertsteigerung verbundene Neupositionierung auf dem Kunstmarkt zu erwirken, ist daraufhin schnell geboren. Damit kommt Otto Scher ins Spiel, der sich nichts sehnlicher wünscht als sein „Pimperlverleger“-Tum abzuschütteln, aufgrund seiner Reiseangst das Flugzeug nach Griechenland allerdings nicht besteigen kann und deshalb seinen Hausautor Leo Kmetko schickt. Der ist nicht nur ein Camus, Sartre und Musil liebender, ironisch veranlagter Schriftsteller, sondern auch ein „routinierter Globetrotter“, versteht er es doch, sich auf La Gomera genauso trittsicher zu bewegen wie in seiner Oberdöblinger Heimat, was schon dem ersten Kmetko-Roman Finstern in souveräner Manier unter Beweis zu stellen gelingt.

Am Ende von Leos „Kos-Expedition“ , die neben ausführlichen Beschreibungen von Landschaft und Örtlichkeiten, kritischen Bemerkungen über „die Pauschaltouristen“, einen Seitenhieb auf das „Schüssel-Haiderregime“, sehr viel Wissenswertes über Zecken und andere Parasiten, das starke und das schwache Selbst, aber auch richtig Amüsantes über Zwischenmenschlichkeiten und andere sonderliche Dinge hervorbringt, wie das von ihm als Mischung aus „ein bisschen Sachbuch, ein wenig Reportage & ein Quentchen Belletristik“ angelegte Werk über den Maler Andrea Irx, steht ein Roman, der sich in sieben Kapitel, einen Prolog, einen Ekel-Exkurs, ein Nachwort und einen Anhang gliedert und dessen witzig aufbereitete Handlung neben der Lesefreude auch noch die Lust entfacht, an Ort und Stelle nachzuprüfen, ob denn da wirklich Schwarzstörche „über die Untiefen des seichten Alikis“ stolzieren und hinter dem Schilf dieses prächtige, „von Kiefern, Palmen, Platanen, Zitronen- & Orangenbäumchen, gigantischen Gummibäumen & Oleandern beschattete Gebäude“ steht.

Dabei legt Ernst Wünsch große Leidenschaft zum Exkurs und enorme Detailverliebtheit an den Tag, welche einiges zur Schrägheit, ideellen Konsequenz und trotz allem guten Bekömmlichkeit dieses zweiten Leo-Kmetko-Romans beitragen, dessen Erzähler („ein geradezu zynisch abgeklärter“ Schriftsteller und konsequenter Anpassungsverweigerer) sich „unter die >starken Selbste<“ mischt, „um die Gesellschaft von innen heraus aufzublättern“. Genau darum geht es in diesem vortrefflichen Künstlerroman: ums Aufblättern. Und das passiert auf recht aberwitzige, kreative Weise.

Kalamata.  Das kleine Ekel-Abc.
Roman.
Klagenfurt: Kitab Verlag, 2013.
245 Seiten, broschiert.
ISBN 978-3-902878-25-0.

Rezension vom 29.01.2015

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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