Bald schon schwoll Sofris Staunen, nämlich als er herausfand, dass sich ein türkischer Übersetzer zwanzig Jahre später just derselben inhaltlichen Verwechslung schuldig gemacht hatte: Auch bei Vedat Günyol waren die Straßenlampen zur Straßenbahn mutiert – was ihm denn in einer translationswissenschaftlichen Arbeit wenige Jahre nach seinem Tod auch als schwerwiegender Texteingriff vorgehalten wurde. Und Sofris Verblüffung sollte sich allmählich ins Unermessliche steigern, als sich nach und nach herausstellte, dass sich im Laufe der Übersetzungsgeschichte von Kafkas Erzählung geradezu eine „Internationale der Straßenbahnübersetzer“ (S. 13) etabliert hatte:
Denn auch in der erstmals 1948 erschienenen englischsprachigen „Metamorphosis“ ist von einer Straßenbahn die Rede: „electric tramway“; desgleichen in einer Übersetzung ins Französische (Alexandre Vialatte, 1928): „tramway électrique“ (was auch diesem Übersetzer in einer posthumen vergleichenden Studie als Ungenauigkeit angelastet wurde); und ebenso in einer niederländischen Fassung (Nini Brunt, 1938/44): „electrische tram“. Naheliegend schien einzig, dass auch die persische Übersetzung von Sadegh Hedayat (1943/50) den Lapsus enthielt, war sie doch auf Basis der französischen Version entstanden. Aber hatten auch die anderen Übersetzer voneinander abgeschrieben? Oder waren sie einem kollektiven Lesefehler erlegen? War ihnen das Straßenbahngebimmel unter ihren Schreibstuben zu Kopfe gestiegen?
Es sei ein Vorgriff gestattet: Dass auch jene Translationswissenschaftler, die den Übersetzern ihren Missgriff zum Vorwurf gemacht haben, offenbar nie auf jene einfache Erklärung gekommen sind, die am Ende dieses Buches steht, hätte Sofri sich zugutehalten können, und da er dies bescheidenerweise nicht in Anspruch nimmt, will der Rezensent es für ihn tun.
Adriano Sofri, 1942 in Triest geboren, Politiker, Intellektueller, Autor, bislang weder als Kafka-Experte noch als Philologe hervorgetreten, machte sich also auf die amateurhafte Suche nach möglichen Erklärungen für die ubiquitäre Straßenbahn-Verwechslung. Sein ausufernder Streifzug durch die Übersetzungsgeschichte der „Verwandlung“, auf dem der Weg das Ziel ist, mancher Umweg genommen wird und manche sekundäre Abschweifung in einen wuchernden Endnotenapparat – „nach Art eines Schattenbuchs“ (S. 157) – ausgelagert wird, ist ein Jahr nach dem italienischen Original nun auch auf Deutsch erhältlich, übersetzt von Annette Kopetzki und erschienen bei Klaus Wagenbach, der als „Kafkas dienstälteste lebende Witwe“ (Selbstdefinition) einiges zur Verfeinerung beigetragen haben dürfte.
Sofris Traktat fördert vielerlei Wunderliches zu Tage. So etwa galt jahrzehntelang Jorge Luis Borges als erster Kafka-Übersetzer ins Spanische. Seiner „Metamorfosis“ (1938) – ebenfalls eine Straßenbahnübersetzung – ging allerdings eine anonyme und beinahe wortgleiche (und auch titelidente) Übertragung voraus, die bereits 1925 in der Madrider „Revista de Occidente“ erschienen war. Sofri führt uns in die turbulente Lebensgeschichte der heute vergessenen jüdischen Kommunistin Margarita Nelken ein, die immer wieder als mögliche Urheberin dieser ersten spanischsprachigen Kafka-Übersetzung genannt wurde, und zeichnet penibel Borges‚ Eiertanz um die heikle Frage nach, ob es sich bei der „Metamorfosis“ tatsächlich um sein eigenes Werk handelte. Hatte der große Borges etwa plagiiert?
Die Geschichte des literarischen Übersetzens ist bekanntlich eine Geschichte des Verleugnens und Verkennens. Sofris krimihaft zu lesende Abhandlung leuchtet manchen dunklen Winkel dieser Geschichte aus, berührt aber immer wieder auch fundamentalere Probleme: Dass Philologen in einer Übersetzung, die gar nicht von Borges stammt, einst eine „borgesianische Genauigkeit“ erkennen wollten, dieselbe Übersetzung aber abtun oder schlicht ignorieren, seit die Urheberschaft des Argentiniers widerlegt ist, ergibt ein unschönes Sittenbild unserer Zunft und spiegelt zugleich die Gesetze jenes Zirkus wider, der sich Literaturbetrieb nennt. Die bereits hoch hängenden Trugbilder werden hier verlässlich immer noch höher gehängt. Und was nicht ins Bild passt, wird gern weggewischt – was Sofri übrigens, bezogen auf philologische Detailfragen, auch der Kafka-Forschung zum Vorwurf macht. (Gegenvorwurf, gleiche Stoßrichtung: Die Anmerkung 8, laut der die weltweit erste Kafka-Übersetzung von 1921 stammt, und zwar ins Ungarische, widerspricht deutlich dem Haupttext.)
Einnehmend an Sofris Kabinettstück sind vor allem die Emphase, argumentative Schärfe und die durchaus persönliche Versessenheit, mit der der Autor am Ende seine These verficht, dass Franz Kafka die Zimmerdecke seines Protagonisten wahrscheinlich tatsächlich lieber von einer Straßenbahn als von irgendwelchen Straßenlampen beleuchtet haben wollte. Und selbst für den einschlägig gesättigten „Element of Crime“-Hörer tun sich in diesem Buch noch ungeahnte Dimensionen von Straßenbahnmetaphern auf. Ob man dem Autor inhaltlich zustimmen muss oder nicht, ist gar nicht entscheidend – was zählt, ist allein die Schönheit der vor unseren Augen entfalteten Theorie, wie verstiegen sie auch sein mag.
Auch dass die Lösung des Straßenbahnrätsels letztlich, wie gesagt, eigentlich ganz simpel ist, tut nichts zur Sache. „Ein guter Philologe hätte das Rätsel in fünf Minuten gelöst.“ (S. 65) Das mag sein. Aber er hätte dafür nicht einen einzigen interessanten Gedanken entwickeln müssen.