Reiner Stach will diese große Lücke schließen und legt nun mit dem Band über die Jahre der Entscheidungen (1910 bis 1915) den ersten gewichtigen Band einer Biographie vor, die dem Vernehmen nach auf gewaltige 2000 Seiten angelegt ist. Stachs Wahl, zunächst diese Zeitspanne zu beschreiben, hat seine Gründe: „Die folgende Zeitspanne bis in die ersten Monate des Weltkriegs ist der am besten dokumentierte Lebensabschnitt, und es ist zweifellos auch der wichtigste, weil hier in dichter Folge alle Entscheidungen fallen, die das verbleibende Jahrzehnt Kafkas Existenz definieren und begrenzen.“ (S. XXVI) In die beschriebene Periode fällt die Arbeit an den Werken „Der Proceß“, „Der Verschollene“, „Die Verwandlung“, „Das Urteil“ und „In der Strafkolonie“; außerdem führt Kafka die umfangreiche Korrespondenz mit Felice Bauer, verlobt und entlobt sich, fährt als Angestellter der Prager „Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt“ mehrmals ins Ausland etc. (plus das Glück des Biographen, daß Kafka 1910 sein Tagebuch beginnt, was einiges an Material bietet).
„Empathie lautet das Zauberwort des Biographen.“ (S.XXIII) Was Stach an dickleibigen „Biographien ohne Leben“ mißfällt, nämlich daß diese „gleichsam über ihren Gegenstand hinweg“ (ebd.) sprechen, will er anhand von Einfühlen in die handelnden Personen, die Situationen und das Milieu erreichen. Wobei er gleich einschränkt, daß Empathie ohne Berücksichtigung von Fakten (etwa biographischer oder historischer Art) eine „Mühle [ist], die leeres Stroh drischt“. Wissen plus Einfühlen lautet also Stachs Rezept. Was in seiner Formelhaftigkeit angesichts des ungeheuren Gegenstandes ein wenig naiv klingt, funktioniert über weite Strecken des Buches ausgezeichnet. Stach beschreibt – und das allein ist schon eine Leistung! – Kafka nicht als blutleeren, lebensunfähigen, humorlosen Einzelgänger ohne soziale Kontakte, sondern versteht es, den Menschen Kafka plastisch, „realistisch“ und umfassend darzustellen – stets mit Rücksicht darauf, was durch Briefe, Tagebücher und andere Dokumente eindeutig belegt ist oder zumindest als äußerst wahrscheinlich bezeichnet werden kann (wobei aufgrund der mengenmäßigen Beschränkung nicht jedes Detail in den Fußnoten auch tatsächlich belegt wird). Dabei greift der Autor durchaus zu drastischen Mitteln, wenn es gilt, Situationen kenntlich zu machen. Etwa dann, wenn sich der scheue, junge Kafka inmitten von umtriebigen Prager Literaten mit dem erfolgreichen Werfel vergleicht, der vor Vitalität strotzt, mit seinen Gedichtbänden Triumphe feiert, bei Frauen beliebt ist und vor allem keine lästigen Bürostunden abzusitzen hat. Stachs prägnantes Urteil: „Werfel war ein Hauptgewinner. […] The winner takes it all.“
Nicht nur Kafka selbst, auch seinen Mitmenschen haucht der Biograph Leben ein. Allen voran (was in den bisherigen, meist hymnischen Kritiken stets hervorgehoben wurde) Felice Bauer: Die zweimalige Verlobte der Pragers ist nicht mehr länger (nur) Projektionsfläche, sondern gewinnt einiges an Profil als eigenständige, praktisch veranlagte, kulturell interessierte und charmante Frau aus einem jüdisch-konservativen Umfeld. In Kafkas zweitem Brief ist schon die ganze Vertracktheit der Beziehung vorweggenommen: „Was ich will, will ich nächstens nicht.“ Doch nicht nur Personen, auch das Milieu und den historischen Hintergrund weiß der Biograph mit spannender und detailreicher Erzählung auszuleuchten. Wenn Stach etwa das Umfeld beschreibt, in der die so berühmte Buchreihe „Der jüngste Tag“ von Kurt Wolff erschien (wo u. a. „Die Verwandlung“ gedruckt wurde), so ist dies gleichzeitig ein kleiner Essay zur Verlagsgeschichte vor dem ersten Weltkrieg.
Die Fülle an Fakten und Interpretationen liefert klarerweise auch einiges, an dem sich der Leser stoßen mag. So schreibt Alfred Löwy an Kafka über den oben erwähnten Kurt Wolff-Verlag: „Die Entstehung des Programms des jüngsten Tages, so wie Du sie beschreibst; es ist, wie das Weltall, aus dem Nichts entstanden.“ (S. 631, Fußnote 18) Daraus schließt der Biograph, daß Kafka vom Verlag einen „windigen Eindruck“ (S. 379) hatte, was m.E. doch ein wenig übers Ziel geschossen ist. War Prag 1910 tatsächlich eine „Provinzstadt“ (S. 4), wie uns Stach weismachen will? Oder nicht eher ein mittelgroßes, rasch wachsendes kulturelles Zentrum mit beachtlichem industriellen Background? Auch das bisweilen Joviale an Stachs „Schreibe“ mag nicht nach Jedermanns Geschmack sein.
Den Gesamteindruck beeinträchtigen solche Details jedoch nicht. Denn Stach hat zweifelsohne ein detailreiches, rasant zu lesendes und neue Welten erschließendes Werk vorgelegt, das die Kafka-Forschung gehörig aufrütteln wird. Man darf jedenfalls auf Band zwei und drei gespannt sein – aber aufgrund der genauen Arbeit des Biographen ist damit nicht allzu bald zu rechnen…