#Roman

K2

Kurt Leutgeb

// Rezension von Georg Renöckl

Die Idee hat was: Wien – das sich ja gerne etwas alpenländischer gibt, als es ist – bekommt endlich einen richtig hohen Berg, einen Dreitausender namens K2. Wobei durchaus noch ein Viertausender drinnen ist, da der Berg unaufhörlich wächst. Er frisst die Stadt auf, ernährt sich von ihr.

Wer glaubt, verrückter könne es nicht mehr werden, irrt. Bei diesem K2 handelt es sich nämlich ausgerechnet um den guten, alten Kahlenberg, der offenbar außer Kontrolle geraten ist. So weit, so schräg, so gut. Wer keine Angst vor möglicherweise allegorischen Geschichten, dafür aber Sinn für Endzeitvisionen hat, wird sich mit Vergnügen auf Kurt Leutgebs Geschichte vom Wiener K2 einlassen.
Und die beginnt harmlos. Aus verschiedenen Teilen Wiens machen sich die handelnden Personen, größtenteils in die Jahre kommende Bummelstudenten, auf den Weg zu einem „Pärchenabend“ in die Wohnung von Alexandra, genannt Smiley.
Häppchenweise wird der Leser mit dem Ausnahmezustand, in dem sich Wien befindet, vertraut gemacht: von „Begradigungsspalten“ und Verkehrsbehinderungen ist die Rede, gelegentlich bebt die Erde und versetzt den Schaum auf dem Bierglas oder den Busen der hübschen jungen Frau am Nebentisch in Schwingungen, was aber für kein weiteres Aufsehen sorgt.

Die sich langsam zuspitzende Handlung wird aus verschiedenen Blickwinkeln erzählt: Es gibt einen Erzähler, der sichtliches Vergnügen daran findet, seine Figuren auf dem Weg in Smileys Wohnung zu beobachten, häufig werden diese auch selbst zu Ich-Erzählern. Sie sind liebevoll ge- und überzeichnet, haben alle ihren unverwechselbaren Stil. Diese Erzähler geben wunderbar Unschönes von sich wie „Ich habe einen Steifen. Leider. Eine Erektion. Fast jedes Mal, bei bestimmt neunzig Prozent der Eingriffe.“ (und erst später erfährt man, dass es sich dabei um Gedanken eines Arztes bei einer Abtreibung handelt) – oder Weisheiten wie „Man sollte immer zwei Bier getrunken haben.“ Ihre Gedanken kreisen um alle möglichen Themen, nur nicht um den am Stadtrand wachsenden Berg: Smiley hat Angst vor einem öden Pärchenabend, weiß aber noch nicht, dass sie mit dem Abtreibungschirurgen zusammentreffen wird, dessen gestohlene Blankorechnungen sie benützt, um ihre zahlreichen Liebhaber zu erpressen. Marlon, ihr Freund, philosophiert im Auto über seine Stellung im sozialen Raum, während der Fahrer Martin sich über die Parkplatznot ärgert. Seine Freundin Eva, Smileys beste Freundin, wird ihrerseits erpresst: eine Gruppe militanter Veganer, deren Mitglied sie war, droht ihr, eine kompromittierende Kassette der Polizei zu übergeben – außer sie hört auf, beim Oralverkehr das Sperma ihres Freundes zu schlucken, andernfalls sie sich nämlich (es handelt sich um tierisches Eiweiß) zur „Kryptospeziesistin“ macht.

Gerade diese Pointe zeigt aber eine der Schwächen von „K2“. Die wechselnden Erzählperspektiven sind unnötigerweise mit ermüdenden Wiederholungen verbunden. So wird beispielsweise Smileys Abzocke mit den gefälschten Abtreibungsrechnungen zuerst von ihr selbst erzählt, vier Seiten später noch einmal vom Erzähler – ohne dass Erzählenswertes hinzugekommen wäre. Für so schlau, den Trick schneller zu kapieren als die Betrogenen, darf der Autor seine Leser ruhig halten. Obendrein machen die ständigen Wiederholungen auch Witze wie den vom nicht-veganen Oralsex nicht besser.

Ein Experiment mit der Erzähltechnik versucht Leutgeb, wenn er sich selbst als Romanfigur auftreten lässt, um folgenden Dialog mit Smiley (auf-) zu führen: „Du bist der Autor, oder?“ – „Ja.“ – „Ich glaube, dich gibt’s gar nicht, du existierst nur in meiner Vorstellung. Naja, Hauptsache, du philosophierst nicht wieder was daher wie beim letzten Mal. Erzähl mir lieber was Lustiges.“ – „Anscheinend glaubst du ja doch an meine Existenz.“
Ärgert man sich nun über die Konstruiertheit dieser Szene, so könnte man sich wenig später freuen, wenn dieser „Autor“ von Smiley der Lüge überführt wird – sie erzählt in der Ich-Form, wie sie von Kurt Leutgeb überredet wurde, diesen Dialog mitzuspielen, da er sich für die Rolle des Autors in der postmodernen Literaturkritik interessiert. Besonders witzig wirkt dieses „Späßchen, das wir dem vergangenen Jahrhundert schuldig sind“, aber nicht.

Im Hintergrund solcher Späßchen und Geplänkel wächst ständig der K2, der sich immer deutlicher durch kleine Erdstöße und Risse in den Straßen, durch die Martin und Marlon bei ihrer verzweifelten Parkplatzsuche rasen, bemerkbar macht. Um welche Straßen es sich dabei handelt, wird durch einen einfachen Trick zum Ratespiel: Wo ist schnell noch mal die Sch***gasse, die im siebten Bezirk vom G***, auf dem um diese Zeit schon Prostituierte stehen, abbiegt? Zur Kenntlichkeit entstellt sind auch viele Österreich-Spezifika, wie arisierte Wohnungen, die K***zeitung, die den Ausländern die Schuld am K2 in die Schuhe schiebt, die Wiener, die den ersten Tausender „ihres“ Berges als Volksfest begehen, sich im übrigen damit begnügen, dass der Bundeskanzler den Berg zur „Chefsache“ erklärt und den behördlich verordneten Neusprech von der „Stadtbegradigung“ klaglos übernehmen.

Die mit dem Berg wachsende Interpretationslust des Lesers, der im K2 eine Strafe biblischen Ausmaßes oder etwas Ähnliches vermuten könnte, wird allerdings am Ende bitter enttäuscht. Da wird zwar der „Autor“ Kurt Leutgeb selbst vom Berg eingesaugt und am Gipfel wieder ausgespuckt, doch dürften ihn auf seiner unterirdischen Reise die guten Ideen verlassen haben. Er begnügt sich mit einer kleinen Science-Fiction-Szene im Berg, wo er statt zur Gehirnwäsche lieber auf ein Bier geht, um dann, wieder an der Erdoberfläche, zu verkünden: „Es war etwas, aber ich kann es nicht sagen. Vielleicht in einem neuen Projekt.“
Vielleicht wäre es beim aktuellen Projekt besser gewesen, dann auch gleich die unterirdische Szene zu streichen und den Berg Berg sein zu lassen. So bleibt ein etwas schaler Nachgeschmack zurück und der Eindruck, man habe es hier mit einem relativ bedeutungsschwangeren, ziemlich verrückten Wien-Roman zu tun, mit einer guten Idee zu Beginn – und keiner zum Schluss.

Kurt Leutgeb K2
Roman.
Klagenfurt: Sisyphus, 2004.
164 S.; brosch.
ISBN 3-901960-27-9.

Rezension vom 21.03.2005

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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