Viele von Calassos Beobachtungen rühren an die Ambivalenz, die Kafkas Werke, seine großen Romane ebenso wie die Parabeln und Aphorismen, auszeichnen. Diese Ambivalenzen und Widersprüche werden – ein Verdienst des erfahrenen Essayisten Calasso – recht präzise benannt. Die Schauplätze von Kafkas Erzählungen sind oft eine Art von Paradies und eine Art von Hölle, beides zugleich; die Erzähl- und Empfindungsweise, die sich auf den Lesevorgang überträgt, tendiert zu Reduktiion und Abstraktion, setzt aber dennoch eine Art von Pathos frei; eine der „Begabungen“ Kafkas, bemerkt Calasso scharfsinnig, besteht in der „Mischung aus krasser Komik und Grausamkeit“; die Hauptfiguren – die beiden K.s aus dem Process und dem Schloß, aber auch der jugendliche Held des Amerika-Romans – sind stolz, aber immer wieder (und zunehmend) auch demütig, sie lassen sich trotz allem erniedrigen; zu den Apparaten und Repräsentanten der Macht verhalten sie sich zunächst kritisch, aber durch ihre Kritik bestätigen und bestärken sie letzendlich die Macht: „Bis zuletzt lehnt sich K. gegen die Macht auf, die ihn töten will – und arbeitet gleichzeitig mit ihr zusammen.“
Derlei Beobachtungen könnten nun dazu führen, Mechanismen und Dynamiken von Kafkas Romanen und Erzählungen herauszuarbeiten. Calasso tut dies nicht, vielleicht aus Scheu, sich in ein allzu abstraktes, literaturwissenschaftliches Fahrwasser zu begeben. Statt dessen paraphrasiert er zahlreiche Situationen, Szenen und Figurenreaktionen und erwägt ihren Wert, den Maßstab von Logik und Realismus in der Hand. Nur ein kleines Beispiel: Das Zitat aus dem Proceß: „dieser große Gerichtsorganismus bleibt gewissermaßen ewig in der Schwebe“ kommentiert Calasso mit dem Satz: „aber wo, fragt man sich, in welchen Regionen des Himmels?“ Dabei weiß er genau, daß derlei Fragen dem Kafka-Universum unangemessen sind. Viele Seiten seiner umfänglichen, den Gegenstand nicht so sehr analysierenden als in immer neuen Anläufen umkreisenden Studie schnurren deshalb im Leerlauf dahin, ehe dann doch wieder die eine oder andere Zuspitzung und also Erkenntnis auftritt. Einiges Unbehagen bereitete dem Rezensenten nicht nur die zur Schau gestellten Naivität des hochintelligenten Verfassers, sondern auch jene Passagen, in denen eine – echte oder ebenfalls ironische? – Sympathie mit der Macht durchzuscheinen scheint. Im Gegensatz zu dieser Haltung hat der Rezensent die gegen den Machtapparat antretenden und an diesem zerschellenden Figuren Kafkas bei seinen Lektüren bisher immer mit Wohlwollen begleitet.
Calasso beschreibt die Figuren in ihren wiederholten Zuständen der Scham und der Erniedrigung. Daraus ließe sich in einem weiteren Denkschritt folgern, daß es im Kafkaschen Erzählen eine regelrechte Maschinerie der Erniedrigung gibt, die gleichbedeutend ist mit der verschlungenen, meist heimtückischen Ausübung der Macht. Von Calassos Feststellung, daß Verstehen zwecklos ist (S. 270), ließe sich weitergehen zur Beobachtung, daß trotz dieser von den Figuren am Anfang allenfalls nur geahnten Tatsache hermeneutische Prozesse in Gang kommen, die einen Gutteil der Romanhandlungen, sofern man von Handlung sprechen will, ausmachen: in der Konfrontation von Verstehenwollen und Sinnlosigkeit, die die Disziplinierung und letztlich Zerstörung des Subjekts (seiner „Eigentümlichkeit“, auf die Calasso in einer aufschlußreichen Passage zu sprechen kommt) bestimmt, bestünde die zugrundeliegende Dramaturgie all der verwickelten, labyrinthaften Episoden. Eine solche Struktur erinnert an die Gattung des Prüfungstraums, die Freud in seiner Traumdeutung analysiert hat und die in Kafkas Tagebüchern und Briefen nicht selten vorkommt. Das eigenartig gespannte Verhältnis von Infinitesimalem und überwältigender Unendlichkeit, das Kafkas Schreiben auszeichnet, könnte vor diesem Hintergrund verstanden werden. Und zuletzt ließe sich von hier aus auch auf die Ebene der Selbstbezüglichkeit kommen, die in Kafkas Texten fast immer präsent ist, von seinem Interpretation verweigernden Interpreten aber seltsamer Weise ausgespart wird.