#Roman

Junischnee

Ljuba Arnautovic

// Rezension von Ursula Ebel

Wer war mein Vater?
Ljuba Arnautovic hat ein suchendes Portrait über ihren Vater geschrieben und gleichzeitig eine lebendige Geschichte über die Schutzbundkinder, die Sowjetunion in den 40er- und 50er-Jahren und das Nachkriegswien erschaffen.

Karl Arnautovic steht einige Tage vor dem Neujahrstag 1960 am Bahnhof in Hohenau an der March, der letzten Bahnstation an der Grenze zwischen der Tschechoslowakei und Österreich, und wartet auf den Zug mit einem Kurswagen aus Moskau. Für den außergewöhnlichen Anlass hat er sich frei genommen und ist vom Wiener Ostbahnhof angereist. Bald hofft er seine russische Ehefrau Nina mit den beiden gemeinsamen Kindern empfangen zu können. Mit liebevoll bezirzenden Briefen hat er versucht, Nina von der Rückkehr aus Russland nach Wien zu überzeugen, die Kinder würden doch ihren Vater brauchen, der kapitalistische Westen habe auch für überzeugte Kommunisten viel zu bieten. Für die überhastete, fluchtartige Abreise der Mutter mit dem erstgeborenen Kind einige Jahre zuvor war Karl Arnautovic selbst verantwortlich gewesen. Zwar stellt er nun einen harmonischen Neubeginn in den Raum, folgt aber einer geheimen Mission. „Doch weder Nina noch Eva [Karls Mutter] kennen seinen Plan.“ Bei einem der beiden Mädchen, die Karl Arnautovic an diesem Winterabend am Bahnhof erwartet, handelt es sich um die Autorin Ljuba Arnautovic selbst.

Zweiter Teil einer außergewöhnlichen Familiengeschichte

In ihrem vorangegangen erfolgreichen Romandebüt „Im Verborgenen“ (2018) hat die 1954 in Kursk geborene Wiener Autorin Ljuba Arnautovic die Geschichte ihrer Großeltern erzählt, vor allem jene ihrer Großmutter: vom einsamen Dasein einer Frau mit kommunistischer Überzeugung in der Nazi-Zeit, deren Kinder im Exil in der UdSSR sind und deren Ehemann in Australien ein neues Leben aufbaut. Nun liegt mit Junischnee der zweite Teil ihrer an Dramatik kaum zu übertreffenden Familiengeschichte vor. Einigen Figuren aus Im Verborgenen begegnen wir auch in Junischnee wieder, doch hauptsächlich nähert sich die Autorin jener Person, die auf bewegende Weise von den politischen Geschichtsbrüchen vor und nach dem Zweiten Weltkrieg geprägt war, ihrem Vater.

Auseinandersetzungen mit eigenen Familiengeschichte(n) sind aktuell am österreichischen Buchmarkt keine Seltenheit. Jüngst erschienen etwa die Familien- oder Kindheitsgeschichten von Monika Helfer (Die Bagage und Vati), Gabriele Kögl (Gipskind) und Margit Schreiner (Vater. Mutter. Kind. Kriegserklärung). Junischnee fügt sich in die literarische Familien- und Selbsterforschung ein, nimmt aufgrund der besonderen zeitgeschichtlichen Konstellationen jedoch einen einzigartigen Stellenwert ein.

Mit dem Sonderzug in die UdSSR

Die katastrophalen zeitgeschichtlichen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts prägen das Leben von Karl Arnautovic und seinem Bruder Slavko unmittelbar. Ihre Eltern gehören dem Republikanischen Schutzbund an. Nach den Februarkämpfen 1934 reisen die beiden Buben ohne ihre Eltern in einem Sonderzug für Schutzbundkinder über Prag nach Moskau, um vor dem Nationalsozialismus in Sicherheit zu sein. Auf den herzlichen Empfang mit schwingenden Fahnen und Musik folgt eine annähernd sorgenlose Zeit im Kinderheim Nr. 6. Doch nach dem Ende des Hitler-Stalin-Pakts werden aus Karl und Slavko aufgrund ihrer deutschsprachigen Herkunft schlagartig, wenn nicht gleich Volksverräter, dann doch Verdächtige. Ihr „Paradies“, das Kinderheim Nr. 6., schließt und die beiden Buben haben nun die Wahl zwischen Vagabundendasein oder furchteinflößenden sowjetischen Kinderheimen. Slavkos Spur verliert sich vorerst. Ein durch Folter erpresstes Geständnis führt Karl geradewegs in eine zehnjährige Gulag-Haft. Hier lernt er seine künftige Ehefrau Nina kennen und einige Lektionen, die er unter dem Titel „Zehn Gebote des Überlebens im Gulag“ subsummiert.

1.Verliere niemals deinen Stolz. Erniedrige dich vor niemandem.
2. Bleib dir gegenüber immer Mensch. Doch unter Wölfen heule als Wolf. (…)
4. Zeig niemals Unterlegenheit.
(…)
10. Vertraue niemandem.

Junischnee greift einige kaum beleuchtete Kapitel der europäisch-russischen Geschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts auf, etwa die Schicksale von Schutzbundkindern, die 1934 ohne ihre Eltern ins sowjetische Exil geschickt wurden, oder die Willkür und Gewalt seitens der sowjetischen Staatsmacht in den Gulags. Doch nicht alle Figuren in Junischnee sind der Sowjetunion gegenüber skeptisch bis feindlich eingestellt. Nina ist eine überzeugte Sowjetbürgerin. „Ihr Kind soll in die neue Welt geboren werden, in sterile Tücher, unter ärztlicher Aufsicht. Nina ist eine moderne sowjetische Frau. Sie ist stolz auf die Errungenschaften ihrer Heimat“ (Vgl. Leseprobe) Besonders eindrücklich sind für die Leserin die Beschreibungen des sowjetischen Alltags, etwa wenn nach Stalins Tod die Menschen von Verzweiflung heimgesucht werden und eine reale Staatstrauer ausbricht: „Durch den Verlust des „Vaters der Nation“ fühlen die Menschen sich wie verwaiste Kinder. Sofort ist da die Angst vor einem neuen Krieg, diesmal ohne den siegreichen Generalissimus. Niemand kann sich vorstellen, dass einem so starken Menschen so etwas Banales zustoßen kann wie der Tod. (…) Zeitgleich mit dem Begräbnis wird man Leichenzüge in vielen Städten organisieren. Die Trauernden brauchen einen – wenn auch leeren – Sarg, dem sie folgen können.“

Unsentimentale Sprache trifft auf emotionale Korrespondenz

Das alles, ergänzt durch originale Dokumente aus den Archiven der Sowjetunion und dem Nachlass Karl Arnautovics, erzählt die Autorin über weite Strecken in nüchterner und schmuckloser Sprache. Auch angesichts extremer Gewalt, grotesker Willkür und fatalen Verrates sowohl auf historisch-politischer als auch auf individueller Ebene behält die Autorin wie schon im Roman Im Verborgenen ihren dokumentarischen Gestus bei. Es ist eine Besonderheit dieses Romans, dass er trotz der dramatisch-persönlichen Stoffe keinem Pathos anheimfällt. Ungekünstelt fällt die Sprache etwa bei der Vorstellung von Arnautovics Mutter aus: „1950 war Nina 21 Jahre alt. Mit sechzehn hat sie ihre Schulpflicht beendet, auch wenn ihr Jahrgang im letzten Kriegsjahr fast keinen Unterricht mehr hatte. (…) Der Krieg hat viel gekostet, an Leben wie an Geld. Jetzt tobt ein Kalter Krieg, und auch der ist teuer.“ Die fein austarierte Komposition des Buches erlaubt jedoch neben dem dokumentarischen auch einen sehr persönlichen Ton, etwa in den fingierten Briefen des Vaters an Mutter, Ehefrau und Geliebte.

Ljuba Arnautovic wahrt in ihrem zweiten autobiografischen Roman Junischnee Distanz zu ihren Figuren. Sie klagt nicht an, sie schildert Geschichte anhand menschlicher Schicksale. Dabei spannt die Autorin ohne weiteres einen Bogen von den 1930er in die 1960er Jahre, wechselt zwischen Schauplätzen in Österreich und der Sowjetunion und arrangiert Prosapassagen, fingierte Briefe, Aufzeichnungen des Vaters und Archivmaterialien zu einem stimmigen Portrait ihres Vaters. Die Dichte an überraschenden Wendungen, skurrilen Momenten und Zufällen sowie die kluge literarische Komposition lassen einen den Roman ungern beiseite legen. Dass die Autorin bereits am dritten Teil ihrer Familiengeschichte schreibt, wie sie in einem Interview mit Walter Pobaschnig verraten hat, ist ein Glücksfall.

Ljuba Arnautovic Junischnee
Roman.
Wien: Zsolnay, 2021.
192 S.; geb.
ISBN 978-3-552-07224-4.

Rezension vom 08.03.2021

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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