#Essay

Journal der Bilder und Einbildungen

Helwig Brunner

// Rezension von Thomas Ballhausen

Der österreichische Lyriker Helwig Brunner legt mit seinem „Journal“ eine Edition präziser Beobachtungen vor, die ein Jahrzehnt des Lesens, Schreibens und Analysierens aufschlüsseln. In essayistischem Tonfall adressiert Brunner meisterhaft die sprachlichen Grundlagen unserer Wahrnehmung und unseres (Miss-)Verstehens. Sein Buch ist ein Wunderwerk des Findens und Erfindens, der „Bilder und Einbildungen“.

Bereits die Titelabbildung seines „Journals“ stellt uns, auch wenn wir es auf den ersten Moment nicht bemerken, auf eine schöne Probe: Auf dem Cover prangt der Zauberwürfel des Ungarn Ernö Rubik, der seit den 1970er-Jahren seinen Siegeszug durch Kinderzimmer, Populärkultur und Geschichte des Spiels angetreten hat. Aber sehen wir da wirklich einen Würfel, oder sehen wir eine in Bewegung gesetzte, in Drehung befindliche Formenvervielfältigung, die selbst wiederum auf kleinerer Ebene die übergeordnete Form reproduziert?
Die strenge Form, die sich in diesem schönen Spiel und seinen Momenten des Kippens und Arrangierens niederschlägt, zeigt sich in der Morphologie des „Journals“. Gegliedert durch „Schnitte“, die thematische Überbegriffe wie Beschriftungen medialer Einzelträger mit sich bringen, entfalten sich über den Band hinweg drei miteinander verschaltete Stränge:
Da ist eine nummerierte Folge aphoristischer Sentenzen und essayistischer Betrachtungen, die sich als spielerische Zugriffe auf die umgebende Wirklichkeit (in all ihrer Schönheit und Zumutung) lesen lässt; da sind die Passagen, die von kursivierten Titelwörtern eingeleitet werden und Versuche der Protokollierung von Wahrnehmung bieten; und da sind erzählerische Kurzkapitel, die, von in Kapitälchen gehaltenen Begriffen und Wortketten eingeleitet, mentale Rundgänge durch Galerien des Imaginären darlegen, immer her hinter den (wie es im ersten dieser Teile so passend heißt) „BILDER(N) KEINER AUSSTELLUNG“.
Der Verlauf dieser Linien über die gesetzten Schnitte hinweg macht deutlich, wie gleichwertig die jeweiligen Abschnitte nebeneinander stehen, egal ob das Beobachtete oder das Imaginäre, das Gefundene oder eben das Erfundene. Reflexion, Sinneswahrnehmung und Imagination verbinden sich als textlich gefasste Bewusstseinsarbeit zu Brunners „Journal“. Und die Wahl der Texttype und des Titels ist nicht zuletzt auch dahingehend stimmig, denn Themen stehen hier anstelle einer chronologischen Tagebuch-Ordnung, der edierte, stark komponierte Denkraum statt eines offeneren Gedankenlabors im Sinne eines Cahiers. Der Fülle des Wahrgenommenen, des Erlebten und Erfundenen wird mit den sprachlichen Mitteln und Möglichkeiten der Literatur begegnet – beigekommen wird ihr, eben weil die Wahrnehmung selbst dabei in bester essayistischer Manier immer wieder an individuelle Einschätzungen und subjektive Perspektivierungen rückgekoppelt wird.

Brunners Buch bietet ein Denken über die Begriffe, über das notwendigerweise zu reflektierende Vokabular, seine tiefenhistorischen und semantischen Strukturen. Im Sinne des in den letzten Jahren wiedererstarkten Diskurses über Begriffsgeschichte bietet er eine praktische – hier eben: literarische – Anwendung davon. Das Feststehende der Begriffe basiert paradoxerweise in ihrem Wandel, ihrer Wandelbarkeit. Die von Adorno in seinen Vorlesungen über philosophische Terminologie dargelegte Folgerung, dass anhand der Begriffe sich notwendigerweise (auch) die Problematisierung des Bezeichneten, also das denkerisch Unerledigte findet, „der philosophische Terminus (als) die verhärtete Narbe eines ungelösten Problems“ (Adorno) verstanden werden darf, erlaubt folgenden abschließenden Hinweis: Der magische Würfel auf Helwig Brunners Buch ist auch in Bewegung, um uns zu eigenen Denk-Bewegungen anzustoßen. Ein Würfelwurf der Lesbarkeit, einmal mehr.

Helwig Brunner Journal der Bilder und Einbildungen
Essay 68.
Graz: Droschl, 2017.
160 S.; brosch.
ISBN 9783854209850.

Rezension vom 19.04.2017

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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