#Roman
#Debüt

Joe baut ein Meer

Roland Grohs

// Rezension von Walter Fanta

Zu Weihnachten bitte eine Novelle

Es ist eine Novelle. Kein Schelmenroman. Ein Schelm, wer solches denkt. Der neue Autor heißt Roland Grohs, er ist keine dreißig, und er hat eine wundersame Novelle geschrieben, die er uns als Roman verkaufen will, als seinen Debütroman. Ein Roman ist ein dickes Buch, das keiner liest das und viel kostet. Die Novelle hier kostet nicht weniger, nämlich beinah 22 Euro, sie ist eine Kostbarkeit. Stellen wir uns vor, es kommt bald Weihnachten, Sie wollen Ihr fast schon erwachsenes Enkelkind beschenken, Sie wollen ein Buch schenken, Sie wollen Ihr Enkelkind lesen sehen. Dann kaufen Sie dieses Schmuckstück für Ihr Enkelkind und es werden Wunder geschehen. Edition Meerauge. Der meerblaue Einband hat eine kreisrunde Öffnung, durch diese schauen wir in eine Welt, die unsere reale Welt ist und zugleich eine Wunderwelt.

Begegnung mit dem Unerhörten

Die Geschichte von Joe – richtig heißt er Josef Maier – ist die Geschichte eines jungen Mannes, der nicht erwachsen werden will, der aus seinem Job rausfliegt, der mal krumme Dinge dreht, der lieber allein Online spielt als mit seiner Freundin, der Lehrerin Marta, zu sprechen oder gar zu ihr zu ziehen, der dann und wann seine an Alzheimer erkrankte Mutter im Pflegeheim besucht, der von einem sonderbaren alten Mann, einem Hotel- und Schlosseigentümer, einen merkwürdigen Auftrag erhält, der auf seinen einsamen Wegen einmal einem Traumwesen begegnet, das ihm mehr bedeuten könnte als Marta, einem anderen Wesen aus einer anderen Welt, das keinen festen Grund hat, sondern auf Seilen tanzt (siehe Leseprobe).
Das ist Romantik pur. Wie im 19. Jahrhundert, wo in eine von biedermeierlichen Sachzwängen bestimmten Alltagsrealität plötzlich eine andere Wirklichkeit einbricht, durch eine wundersame Begegnung. Wie in einer Novelle eben. Was ist die Novelle anderes, schreibt Goethe, als eine „sich ereignete unerhörte Begebenheit“, er meint, eine Begegnung des Realen mit dem Unerhörten, mit dem Imaginären, würde Jacques Lacan sagen.

Ganze Sätze

Dieser Roland Grohs erzählt in seiner Schelmen-Novelle von Schelmenstücken und wundersamen Begebenheiten in unserer gegenwärtigen mittelmäßigen europäischen Realität des 21. Jahrhunderts, aber er erzählt im Grunde in einer Sprache des 19. Jahrhunderts. Die Sätze sind noch ganz. Oder vielleicht besser: Die Sätze sind wieder ganz. Eine Welt von heilen Sätzen. Auffallend viele Sätze stehen in Dialogen. Kurze Sätze, manchmal Elipsen, aber ganz ausgesprochen. Kurze Sätze über das, was Joe denkt. Kurze Sätze vom Geschehen. Die Dialoge sind eingerahmt von wunderschönen Inquit-Formeln: sagte erwiederholte ergab sie zurück.
Diese ganzen Sätze sorgen dafür, dass die Geschichte dieses Buchs eine ganze ist. Eine Entwicklung wird strikt chronologisch beschrieben, in einem erzählerischen Bogen. Da darf natürlich auch der Falke nicht fehlen, der für die Novellentheorie des 19. Jahrhunderts typisch ist. Die Leseprobe enthüllt den Mikrokosmos dieser Erzählweise: Joe spricht mit Marta, Joe spricht mit dem Papagei (der Parodie auf Heyses Falken), Joe hat Sex mit Marta, Joe flüchtet, Joe begegnet der Seiltänzerin.
Das Dingsymbol dieser Novelle ist natürlich nicht der Papagei, sondern das Meer. Auch wenn es Joe nicht gelingt, ein Meer zu bauen, auch wenn die Seiltänzerin nie zu Joe kommen wird, so hat Joe doch etwas dazugelernt, er hat eine Bildung verpasst bekommen, er hat eine Entwicklung vollzogen, ganz wie es sein soll in der bürgerlichen Ordnung. Damit unsere Enkelkinder wieder lesen, sollten wir ihnen wieder ganze Geschichten unter den Weihnachtsbaum legen.

Ein Schelmenroman.
Klagenfurt/Celovec: Verlag Johannes Heyn, 2021.
Edition Meerauge Band 18.
143 S.; geb.
ISBN 978-3-7084-0665-7.

Rezension vom 03.11.2021

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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