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Jessica, 30

Marlene Streeruwitz

// Rezension von Nicole Katja Streitler

Was einer Dreißigjährigen so alles durch den Kopf geht, erfährt man in Marlene Streeruwitz‘ neuestem Roman Jessica, 30. Die Titelfigur ist eine prototypische und heute nicht gerade seltene brotlose Jungakademikerin, die nach diversen geisteswissenschaftlichen Abschlüssen (Germanistik und Philosophie in Wien, Kulturwissenschaften in Berlin) hoffnungslos überqualifiziert und doch zu nichts zu gebrauchen ist und deshalb ihr Dasein als so genannte „freie Mitarbeiterin“ bei einer Frauenzeitschrift fristet. Dementsprechend reicht ihr Horizont von soaps wie Sex and the City und Dawson’s Creek über Farb-Typen-Beratung, Populärpsychologie à la Gerti Senger, österreichische Tagespolitik und klassisches Bildungsgut bis zur französischen Gegenwartsphilosophie.

Diese so unterschiedlichen Lebens-Deutungs-Angebote werden von Jessica in einer Art wildem Interpretationsverfahren auf das eigene Leben projiziert, und, wenn auch keines davon wirklich sinnfüllend wäre, so scheint doch schon ihr bloßes Vorhandensein, ihre Verfügbarkeit irgendwie beruhigend. Immerhin kann mit ihrer Hilfe das rätselhafte und in seiner Kontingenz sinnlos wirkende Leben in Schubladen oder files – wie Jessica in ihrem übertrieben eingesetzten Neudeutsch wohl sagen würde – verteilt und damit doch einigermaßen bewältigt werden. Denn das, was wir mit einem unglaublich antiquiert wirkenden Begriff immer noch als das „Leben“ bezeichnen, scheint in Wirklichkeit nichts anderes zu sein als eine lose Folge videogameartiger Bewährungsproben, in denen man nur über das jeweils passende (sprachliche) Rüstzeug, den Jargon oder Code, verfügen muss, um bestehen zu können. Oder mit Jessicas Worten:

„[…] ich weiß überhaupt nichts, ich weiß nicht einmal mehr, wieso so ein Flugzeug überhaupt fliegt, ich sollte das beim Kurti doch einmal ausprobieren, am Computer, der übt das jetzt schon ein Jahr und crasht immer noch beim Starten, aber dann weiß man wenigstens, wie es geht, und es schaukelt richtig hinunter, und es ist schlechtes Wetter und ich habe keinen Regenschirm mit, weil ich nicht ins Internet kann, in der Gumpendorfer Straße und weil einfach keine Zeit war, das ist schon blöd, man muss nicht so blöd dastehen, besser vorbereiten, und es ist immer das Gleiche, die Hausaufgaben, Issi, die Hausaufgaben, mangelhaft, aber ich werde improvisieren, das habe ich gelernt, mit nicht gemachten Hausaufgaben, da lernt man sich durchschlagen […].“

Eine der zentralen Obsessionen der Autorin kommt an dieser Stelle zur Sprache: die tiefe und dauerhafte zwangsneurotische Prägung, die jeder und jede von uns durch die Schule verpasst bekommt. Zugleich ist die Stelle ein schönes sample für den sound von Streeruwitz‘ Roman. Die stream of consciousness-Technik, derer sich die Autorin bedient, stellt das reflexive cross over der Hauptfigur schonungslos bloß und so ist diese Jessica letztlich nichts anderes als ein „Fräulein Else“ der „Generation Golf“. Im Monolog ist der moderne Mensch bekanntlich am meisten bei sich selbst – gefangen in den eigenen Denkschleifen und doch auch irgendwie zuhause. Eine Erkenntnis, die vor allem Thomas Bernhard in exzessiver Weise literarisch fruchtbar gemacht hat. Allerdings scheint fraglich, ob dies für die Talk-und-Handy-Gesellschaft noch in dem Maße gilt.

Im ersten der drei Kapitel, aus denen der Roman besteht, ist diese Technik jedenfalls sehr wirkungsvoll, wenn der Rhythmus von Jessicas wilden Assoziationen noch gedubbt wird durch den Rhythmus des Laufens, das sie in einer Art Selbstkasteiung betreibt, um ihre nächtlichen Fressorgien (Schokoeis und Maple Walnut) zu kompensieren. Im zweiten Kapitel widerspricht der speedige Rhythmus der Reflexionen allerdings etwas der Langeweile, die Jessica empfindet, wenn sie stundenlang auf ihren Lover, den ÖVP-Staatssekretär für Zukunfts- und Entwicklungsfragen Gerhard Hollitzer, wartet. Klassische Geliebtenszene. Und nach einem geschmacklosen blow job, während dem Hollitzer mit seiner Frau telefoniert, beschließt Jessica, ihn mit einer Ostmädchen-Prostitutionsgeschichte, die ihr zugetragen wurde, politisch zu vernichten. Mit diesem Racheakt will sie sich zugleich stellvertretend an allen Männern rächen, von denen sie benutzt wurde.

Freilich hat es auch in Jessicas Leben einmal eine große Liebe gegeben. Und der trauert sie noch nach. Und mit gutem Grund. Denn mit Alfred hatte sie sogar guten, d. h. gefühlvollen und intuitiven Sex gehabt. Doch aus irgendwelchen Gründen hatten sie sich verloren, wie das halt so geht, weil man zu jung ist und noch nicht recht weiß und nicht reden kann und zuwenig Zeit und Erfahrung hat und sich nicht festlegen will und überhaupt. Und was danach kam, hatte weder Dauer noch Tiefgang.

Zweifellos gestaltet Streeruwitz damit ein zentrales Motiv jeder heutigen éducation sentimentale. Die Seltenheit wirklicher Liebe und das meist sehr kurze Ablaufdatum von Liebesbeziehungen einerseits, die Häufigkeit oberflächlicher (Sex-)Affären und die Übersättigung unserer Lebenswelt mit sexuellen Reizen andererseits sind in ihrer Auswirkung auf unsere psychosoziale (und insbesondere: berufliche) Entwicklung wohl noch nicht ausreichend erforscht worden. Dass Jessica allerdings am Ende des sonst in vielem so trostlos wirkenden Buches doch noch nicht alle ihre Illusionen und Ideale aufgegeben hat, stimmt irgendwie versöhnlich und lässt hoffen, dass diese Generation doch nicht so verloren ist, wie sie zuweilen – und auch bei Streeruwitz – aussieht.

Jessica, 30.
Roman.
Frankfurt am Main: S. Fischer, 2004.
255 Seiten, gebunden.
ISBN 3-10-074427-6.

Homepage der Autorin

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autorin

Rezension vom 29.06.2004

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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