#Prosa

Jena Paradies

Florian Neuner

// Rezension von Georg Renöckl

Zwölf Montagen, zwölf Stationen einer Reise durch Mitteleuropa versammelt Florian Neuner in Jena Paradies, seiner zweiten Buchveröffentlichung nach „Und käme ein schwarzer Sturm gerauscht“ (2001). Neuner, 1972 in Wels geboren, hat in Salzburg, Wien, Frankfurt und Berlin studiert, wo er heute lebt.
Auch der Erzähler von Jena Paradies hält es nicht lange an einem Ort aus: Venedig, Greifswald, Mürzzuschlag, Turin, Frankfurt, Bad Hofgastein, Bratislava sind nur einige Stationen einer Reise, die im Schweizer Grenzort Poschiavo beginnt und endet, obwohl ihr ursprüngliches Ziel Laa an der Thaya ist. Wenn sie überhaupt ein Ziel hat.

Mit herkömmlichen Reiseberichten, die man vielleicht nach einem Blick auf das Inhaltsverzeichnis erwarten könnte, haben die Texte wenig gemeinsam. Es sind Montagen, die Beobachtungen und Erlebnisse des Erzählers mit Texten unterschiedlichster Provenienz vermischen: Hölderlin, ein Bierflaschenetikett, Ernst Bloch, im Deutschlandfunk Gehörtes, Ilse Aichinger, Speisekarten, Wolfgang Hildesheimer, Klosprüche und Theodor W. Adorno stehen gleichberechtigt neben- und durcheinander. „Denn wie sollten sich überhaupt Sätze formulieren lassen, die nicht – und sei es unbewußt – aus vorhandenem Material zitieren?“ fragt (sich) folgerichtig der Autor im „Appendix“, in dem er auf einige seiner Quellen hinweist.

Oft besteht ein eindeutiger Zusammenhang zwischen Zitaten und dem Ort der Handlung. Das zentrale, mit Abstand längste Kapitel „Kölle, hart Backbord“ etwa kreist um die Themen Karneval und Homosexualität, die Erlebnisse des Erzählers werden vor allem Auszügen aus Bachtins Karnevals-Text „Rabelais und seine Welt“ gegenübergestellt. Häufig sind die Bezüge des Montage-Materials zu den Orten aber schwerer zu erkennen: So ist das Kapitel „Mürzzuschlag“ durchsetzt mit von Joseph Horowitz gesammelten Zitaten des chilenischen Pianisten Claudio Arrau, der in Mürzzuschlag gestorben ist, sowie mit Passagen Adornos über Beethovens Spätwerk, das beide Pianisten interpretiert haben.

Äußerst hilfreich bei der Lektüre solcher Kapitel ist der bereits erwähnte „Appendix“, mit dem der Autor seinen Lesern zumindest teilweise die Möglichkeit verschafft, die Herkunft seines Materials nachzuvollziehen. Erst ein häufiges Hin- und Herblättern zwischen dem eigentlichen Text und diesem Apparat ermöglicht ein besseres Verständnis der Erzähl- und Montagetechnik, macht Querverbindungen sichtbar und gibt einem Text, der „Entlegenes und Unverbundenes verbinden“ will, eine Tiefe, die auf den ersten Blick nicht immer erkennbar ist. Manchmal ist die Montage auch einfach ein Spiel mit Hang zum Kalauer, beispielsweise wenn es heißt: „Ho voglia di succhiare un bel cazzone. Oder doch lieber noch eine Flasche Rotwein.“

Nicht nur in die Quellen, auch in die Entstehungsgeschichte des Textes gibt uns der Erzähler immer wieder Einblicke, die Schreibsituation bleibt stets präsent. Schreibort und Fluchtpunkt der Szenen ist Berlin, das auf diese Weise auch einer der Handlungsorte aller Kapitel des Buches ist.
Im Vordergrund von Neuners Reiseschilderungen stehen nie Sehenswürdigkeiten, sondern immer Rand- und Grauzonen, die unattraktiven Seiten der bereisten Orte. Bahnhofsviertel und Bahnhofkneipen, verkommene Dorfwirtshäuser mit schlechter Musik und noch schlechterem Essen, die „Cruisingviertel“ außerhalb der Stadt, in denen der Erzähler auf der Suche nach Sexualpartnern ist, sind das Milieu, in dem er sich bewegt – und betrinkt. Auch mit einem guten Dutzend Biermarken wird der Leser zunehmend vertrauter.

Der Erzähler ist meist betrunken, gelegentlich auch krank oder verletzt; so gut wie immer ist er schlecht gelaunt und einsam. Die vielen geschilderten Sexszenen bleiben flüchtige Begegnungen und enden oft, gemeinsam mit dem Rausch, in dem sie stattgefunden haben, mit Katerstimmung. Er streitet mit den Wirten der hässlichen Gasthäuser, in denen er schlechte Speisen serviert bekommt, wird von Männern angemacht, die er nicht will und macht Männer an, die ihn nicht wollen. Selbstmordgedanken sind ihm nicht fremd, im feiernden Köln macht sich „Karnevalspessimismus“ breit. Von einem „Verhängniszusammenhang“ ist die Rede. Viele Kapitel enden melancholisch oder mit einer Abschiedsszene, vor heruntergelassenen Rollläden, bei einem (roten) Stern, der den Weg zum (Soldaten-)Friedhof weist, mit dem Hinweis auf Fahrpläne, die zum Aufbruch mahnen – oder auch mit einem „Schwanz im Mund.“

Jena Paradies ist ein Text, der es seinen Lesern nicht leicht macht. Einsamkeit bis zur Depression, Trinken bis zum Blackout und Sexszenen bis zur Piss-Orgie dominieren das Buch. Ist man aber bereit, sich auf das intertextuelle Spiel mit den verschiedenen Sinnebenen einzulassen und den Fährten, die der Autor legt, zu folgen, lohnt sich die Mühe – und bei aller Depression und Einsamkeit sorgt Neuners ungewöhnlicher Reisebericht dann auch für wachsendes Lesevergnügen.

Florian Neuner Jena Paradies
Reiseberichte.
Klagenfurt, Wien: Ritter, 2004.
184 S.; brosch.
ISBN 3-85415-364-3.

Rezension vom 03.02.2005

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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