#Prosa

Jeder Ort hat seinen Traum

Brita Steinwendtner

// Rezension von Gerald Lind

Die Beschäftigung mit dem Raum hat in der Kultur- und Literaturwissenschaft zur Zeit Konjunktur. Als Ausgangspunkt für diesen unter dem Begriff „spatial turn“ oder „spatiale Wende“ subsumierten Forschungsschwerpunkt kann das von dem französischen Philosophen Michel Foucault in seinem Aufsatz Von anderen Räumen formulierte Diktum fungieren, dass wir, im Gegensatz zum 19. Jahrhundert, in einem „Zeitalter des Raumes“ leben.

Brita Steinwendtners Buch Jeder Ort hat seinen Traum. Dichterlandschaften kann auf der Folie der aktuellen raumtheoretischen Diskurse gelesen werden. Jedoch ist Steinwendtners Beschäftigung mit 13 AutorInnen nicht als theoriegeleitete Untersuchung angelegt. Trotz analytischer Passagen geht es ihr eher um Vermittlung von Literatur, und zwar über „Dichterlandschaften“, wobei mit diesem Begriff sowohl erzählend konstruierte Landschaften als auch Orte und Räume gemeint sind, in denen SchriftstellerInnen leben und arbeiten.

Eine auf den ersten Blick formale Schwäche des Bandes entpuppt sich bei genauerer Betrachtung als Stärke. Denn einerseits ist nicht ganz klar, welchem Genre dieses Buch zugeordnet werden kann. Handelt es sich um Literaturwissenschaft, Literaturkritik, Journalismus, Essayismus oder vielleicht doch um Literatur selbst? Zum Teil wird mit einem Fußnotenapparat gearbeitet, man erfährt aber auch einiges aus dem Leben, aus den Gedanken und Gefühlen der Verfasserin. Diese Unentschiedenheit der Form ermöglicht es der Autorin andererseits, sich frei von genrebedingten Regeln den SchriftstellerInnen und ihren Arbeiten zu nähern und dabei bisweilen ganz bemerkenswerte Einsichten zu erlangen. Vielleicht hätte sich die anfängliche Verwirrung der Leser mit einem Vorwort vermeiden lassen, mit Auskünften über Ansatz, Methode und Ziel, über die Auswahl der DichterInnen und der mit ihnen assoziierten Räume und Orte. So muss es genügen, festzustellen, dass Steinwendtner eine produktive Aufhebung der klassischen Trennung in Primär- und Sekundärliteratur vornimmt, die ihre ästhetischen Wurzeln in den Fernsehporträts der Autorin hat, in denen sie sich vor allem mit österreichischen LiteratInnen beschäftigt.

Die dreizehn Texte sind von unterschiedlicher Qualität und Intensität. Es ist naheliegend, dass die Kapitel, die um ein persönliches Treffen mit einem Autor / einer Autorin organisiert sind, beim Leser mit jener gewissen frivolen Neugierde rechnen können, die aus der Möglichkeit eines Blickes in Schreibwerkstatt und private Lebensumstände erwächst. Natürlich ist es interessant zu lesen, dass sich Peter Handke „in den Wäldern von Versailles […] wie in seinem Haus [bewegt], jeder Schritt ist ihm vertraut, jedes Zweig-Wegbiegen“ (S. 268) und dass er dort am Ufer eines kleinen Teiches an Mein Jahr in der Niemandsbucht gearbeitet hat, weil er „ein Buch ganz im Freien […] schreiben“ (S. 269) wollte. Doch benützt Steinwendtner ihre Gespräche nicht dazu, ein mit dekorativen Zitaten versehenes Interviewbuch zu schreiben. Ihr geht es tatsächlich darum, über die Begegnungen mit Barbara Frischmuth oder Ilse Aichinger, Peter Turrini oder Veit Heinichen, Christoph Ransmayr oder Raoul Schrott und den sie umgebenden und zum Teil auch von ihnen erzählten Räumen und Orten das literarische Werk zu erschließen. Und deshalb ist es weniger bemerkenswert, wie Peter Handke im Pariser Vorort Chaville lebt, sondern dass man „[n]irgendwo sonst“, als in Mein Jahr in der Niemandsbucht, „dieses Paris beschrieben [findet], dieses Umland, das ‚Nebendraußen‘, dieses aber so genau, daß es greifbar ist in jeder Einzelheit.“ (S. 252)

Treffsicher präpariert Steinwendtner wesentliche Aspekte der interpretierten Texte heraus und verweist auf aktuelle raum- und kulturtheoretische Diskurse, ohne aber je das Ausgangsmaterial, die Literatur, aus den Augen zu verlieren. Exemplarisch und ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien als Themen des Buches genannt: das Ineinanderübergehen von Identitäten, historischen und sprachlichen Räumen am Beispiel von Veit Heinichens in der Grenzstadt Triest spielenden Kriminalromanen; das Einschreiben von Narrativen in Räume und umgekehrt Räumen in Narrative bei Bruce Chatwin und seinen „Songlines“; (Wiener) Erinnerungsorte und Gedächtnisräume bei Ilse Aichinger; die Problematik von Zentrum und Peripherie bei Handke; das Schreiben vom Außen über das Innen (und umgekehrt) aus biographischer Perspektive bei Paul Wühr und Hartmut Lange, die beide in Umbrien leben, aber nicht über Umbrien schreiben, sondern über München und Berlin, bei Johannes Urzidil, der aus dem New Yorker Exil das kakanische Böhmen und bei Ingeborg Bachmann, die aus Rom Wien erzählte; das Fremde und das Eigene sowie die Frage von Identität und (auch räumlicher) Differenz im zwischen Orient und Okzident pendelnden Werk von Barbara Frischmuth.

Brita Steinwendtners Jeder Ort hat seinen Traum ist ein kenntnisreiches Buch, das allerdings teilweise die für Literaturwissenschaftler und -kritiker notwendige Distanz zu den Produzenten literarischer Texte überschreitet: ein etwas kritischerer Zugang zu Werk und Biographie hätte bisweilen nicht geschadet. Trotz dieses Mankos ist die Lektüre über weite Strecken ein Vergnügen und macht Lust darauf, die gelebten und erzählten Landschaften in realer und/oder literarischer Form aufzusuchen.

Brita Steinwendtner Jeder Ort hat seinen Traum. Dichterlandschaften.
Innsbruck, Wien: Haymon, 2007.
278 Seiten, gebunden, mit Abbildungen.
ISBN 978-3-85218-540-8.

Homepage der Autorin

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autorin

Rezension vom 29.10.2007

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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