#Prosa

Jarmila

Ernst Weiß

// Rezension von Hans-Harald Müller

60 Jahre nach ihrer Niederschrift wurde die im Pariser Exil entstandene Novelle von Ernst Weiß in Prag aufgefunden – ein unerhörter Glücksfall. Jarmila ist eine kleine literarische Sensation.

Ernst Weiß wählte am 15. Juni 1940, einen Tag nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in Paris, den Freitod. Sein Nachlaß wurde vermutlich von der Gestapo beschlagnahmt; und er gilt als verschollen. 1882 in Brünn geboren, hatte Weiß in Prag und Wien Medizin studiert, war Chirurg geworden, bevor er nach Berlin übersiedelte und das Schreiben zu seinem Beruf machte. Er war ein enger Freund Kafkas, wurde von Thomas Mann und Stefan Zweig gefördert und zählt zu den bedeutendsten deutschsprachigen Autoren der ersten Jahrhunderthälfte.

Weiß hat neben Essays 16 Romane und zahlreiche Novellen geschrieben. Seine Geschichten leben von großer Spannung und leichter Lesbarkeit, ihre beunruhigende Rätselhaftigkeit fesselt den Leser.

Jarmila ist eine doppelbödige Novelle: sie besteht aus zwei ineinander verschränkten Ich-Erzählungen. Eine „Liebesgeschichte aus Böhmen“ nannte Weiß die Binnenerzählung von Jarmila ironisch, denn in dieser Geschichte ist so viel Haß wie Liebe, und voller Rätsel ist sie außerdem. Jarmila, die Hauptfigur, ist eine der typischen Frauenfiguren von Weiß: schön, hingebungsvoll, viel versprechend, wenig haltend, faszinierend trotz alledem – oder vielleicht gerade deshalb. Sie hat einen Ehemann, mit dem sie nichts, und einen Geliebten, mit dem sie eine jener herzlich bösen Beziehungen verbindet, für deren sadomasochistische Varianten Ernst Weiß bekannt ist. Jarmila ist die Mutter eines Kindes, aber Ehemann, Geliebter und Leser erfahren nie, wer der Vater ist. Unklar bleibt auch, ob der Ehemann von seinem Nebenbuhler weiß. Dieser Liebhaber, er ist Uhrmacher, unternimmt einen ernsten Versuch, sich von Jarmila zu lösen. Der Versuch mißlingt. Bevor sie einem Unglück zum Opfer fällt (oder ist es Mord?), wird Jarmila ein zweites Mal schwanger. Der Uhrmacher zündet die Scheune von Jarmilas Ehemann an und wird zu einer Gefängnisstrafe von 5 Jahren verurteilt.

Diese Dorfgeschichte, poetisch und mit böser Härte geschildert, ragt wie ein düsteres Geschehen aus mythischer Zeit in die Gegenwart der Erzählung. Der Uhrmacher hat seine Gefängnisstrafe verbüßt und trifft in Prag auf einen Mann, dem er diese Geschichte, seine Lebensgeschichte, erzählt. Dieser nun wird zum zweiten Ich-Erzähler, und er ist ein merkwürdiger Mann. Er lebt in Paris, handelt mit Obst und ist aus geschäftlichen Gründen nach Prag gefahren. Noch in Paris hat er seine Uhr vergessen und sich eine neue gekauft, die mal vor, mal nach, aber immer falsch geht. Das wäre an sich kein Problem, wenn er dieser Uhr nicht vertrauen und mit der (falschen) Zeit allmählich aus dem festen Geleise seines Lebens geraten und ein immer heftigeres, rätselhaftes Interesse an dem Uhrmacher finden würde.

Nach der Rückkehr holt ihn die Erzählung in Paris ein. Eines Tages stehen der Uhrmacher und dessen Sohn (oder der Sohn von Jarmilas Ehemann?) vor der Tür unseres Rahmenerzählers; der Uhrmacher will mit dem gekidnappten Kind nach Amerika auswandern. Der Sohn aber vereitelt die Abreise, indem er (unter Mithilfe des Rahmenerzählers?) Jarmilas Ehemann seinen Aufenthaltsort verrät. Der Uhrmacher wird von der Polizei gefaßt und ins Gefängnis geworfen, wo er sich umbringt. In den letzten drei Sätzen der Novelle kommentiert der Rahmenerzähler: „Ich durfte die Leiche des unseligen Mannes sehen. Aber war er wirklich so unselig? Er hatte geliebt, sein ganzes Mannesalter lang, und es war vielleicht besser, an einer solchen Liebe zugrunde zu gehen als an Gicht.“

Weiß‘ Novelle schildert mit sparsamen poetischen Mitteln, die mitunter an Stifter erinnern, ein spannungsreiches Geschehen, das viele Fragen offenläßt.

Im selben Jahr wie Jarmila schrieb Weiß einen Essay über das angebliche „Ende der Novelle“. Was der heutige Leser der Novelle vorziehe, meinte Weiß, sei der „manchmal so träge Aufbau einer kleinen Welt in sich, der ordentliche kleinbürgerliche, private Mikrokosmos, wie ihn eigentlich fast jeder Roman darstellt. Im Roman fühlt man sich daheim. Er ist Brot. Die Novelle ist Feuer, Funke oder Blut, Träne, Schrei – in kleinem Rahmen die weitbedeutende Kunstform.“ Jarmila ist ein Meisterwerk dieser Gattung.

Jarmila. Eine Liebesgeschichte aus Böhmen.
Mit einem Nachwort von Peter Engel.
Frankfurt / Main: Suhrkamp, 1998.
111 Seiten, gebunden.
ISBN 3-518-22288-0.

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autor

Rezension vom 02.06.1998

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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