#Lyrik

jana, vermacht

Anja Utler

// Rezension von Jelena Dabić

Alles ist in ständiger Weiterentwicklung begriffen und alles muss, je mehr es uns interessiert, komplizierter und anspruchsvoller werden. So auch die Lyrik und ihr Leser. Anja Utler, mehrfach ausgezeichnete Dichterin der jüngeren Generation, macht es ihm auch mit ihrem vierten Gedichtband nicht leicht.

Dass man es mit experimenteller Lyrik zu tun hat, wird auch an der graphischen Gestaltung der Texte sichtbar. Blättert man das optisch ansprechende, weiß eingebundene Buch einmal durch, sieht man eine ganze Menge von unter- und abgebrochenen Wörtern und Sätzen (erkennbar an vielen Binde- und Gedankenstrichen) und genauso viele Wörter, die ein Sonderzeichen enthalten. Dieses erinnert an ein Fragzeichen und steht – wie noch vor dem Textkorpus erklärt – für den Glottisschlag. Dem Leser eventuell aus dem fremdsprachendidaktischen Kontext bekannt (Reiner Kunze: Fünfzehn!), ist er außerhalb phonetischer und phonologischer Texte kaum präsent. In Utlers Texten hat er wiederum durchaus seinen Platz: Die Autorin, promovierte Philologin mit Sprecherziehung im Drittfach, konzentrierte Band für Band ihre Texte um den Akt der Sprechens, des Sagens und die Möglichkeiten der menschlichen Stimme. Dies wurde auch in zwei Buchtiteln deutlich: aufsagen (1999 in kleiner Auflage erschienen) und münden – entzüngeln (2004, Edition Korrespondenzen). Originell ist hier weiters die Seitennummerierung und die dem Duktus der Texte entsprechenden Gedichttitel: „46, denn s hat sich noch alles derʔaun lassn“; „aber kʔin-, sagst, gibts angst, 2“; „d- habe hand und mund, 2“; „zu dir: was mir wissen mü-, 4,3“
(ʔ steht für den Glottisschlag / Knacklaut).

Nun ist es so, dass wir zum Verständnis des Geschriebenen die Vokale gar nicht brauchen – man denke an die arabische Schrift, die nur Konsonanten enthält und Vokale nur zusätzlich oben und unten anfügen kann (aber nicht muss). Genauso ist es für das Verständnis unerheblich, ob die Buchstaben eines Wortes in der richtigen Reihenfolge daher kommen. Etliche Auslassungen können wir verkraften, ohne geringste Einbußen an Verständnis eines Wortes oder Textes. Bei Utler betreffen die Auslassungen in erster Linie Vokale, dann aber auch Konsonanten und schließlich ganze Silben („nicht ein halmig- ein steckn rück- wʔrds und / d- verfang- s-ch über kreuz komm- ihn,n“; und läuft gleiʔ- / gleiʔsträngig läuft d- ew- läuft hin mit d- stʔahl“). Dabei ist der Leser angehalten, das jeweils Fehlende zu ergänzen – was ihm mal leichter, mal schwerer fällt. Insofern kann man hier von interaktiven Gedichten sprechen, bei denen die Bedeutung – und zunächst einmal der Wortlaut! – der Texte auch vom Leser abhängt. Dass das Verständnis der Metaphorik und der zahlreichen Andeutungen damit zwangsläufig noch schwieriger wird, kommt hinzu. Dies wird besonders bei Wörtern deutlich, die – je nach Ergänzung – verschiedene Bedeutungen erlangen. Besonders häufig spielt Utler etwa mit „nʔcht“ und „nʔchts“, was sowohl „nicht(s)“ als auch „nachts“ heißen kann. Ähnlich verhält es sich mit „verbrʔch“ (verbrauchen/verbrechen), „vergʔ-“ (Vergessen/vergeblich) oder „ins offene fʔ-“ (Fenster/Feuer). Selbstverständlich bedeutet das Lesen von Lyrik immer auch ein ständiges Ergänzen; die stärkste Wirkung erzielen Texte oder Textteile, die etwas nur andeuten, ohne es klar auszusprechen. Tatsächlich stellt sich auch bei der Lektüre von jana, vermacht nach anfänglicher Irritation geradezu eine Lust am Erkennen von „richtigen“ Wörtern und Bildern ein.

Utlers vierter Gedichtband hat eine klare thematische Ausrichtung: Es ist ein (fiktiver) Dialog zwischen Enkelin und Großmutter, die Anfrage der jungen Zeitgenossin an eine Angehörige der Kriegsgeneration, der Generation, die sich an den NS-Verbrechen schuldig gemacht hat. Die Grundfrage lautet hier: Wie ist es dir dabei gegangen? In einem der ersten Texte wird sie zwar negiert („nicht: frage ich wie: ist dir da, großmutter, und nicht / frag ich wie: war dir da wie ihr – wie du gemerk- h-s […]“), dennoch zieht sie sich mit einer Dringlichkeit durch den ganzen Band. Beantwortet wird sie mit den zögerlichen, unvollständigen und verschlüsselten Berichten und Erzählungen der Großmutter. Der Dialog erstreckt sich über etwa hundert Seiten (wobei die jeweils rechte Seite oft sehr kurze Texte enthält) und kann als eine narrative Einheit gelesen werden. Dabei eignet sich das zurückhaltende, zögernde, bruchstückhafte Sprechen in Rätseln und Andeutungen hervorragend als Metapher für das beharrliche Schweigen derjenigen, die sich an Vernichtung und Massenmord direkt oder indirekt beteiligt haben. Lenkt die Großmutter zunächst noch ab, indem sie lieber vom Garten und den Pflanzen darin spricht, entlockt ihr die Fragestellerin nach und nach eine ganze Menge von Informationen. Es kommen immer mehr Ereignisse zum Vorschein, wenn auch nur in vagen Andeutungen, doch die genügen. Die Rede ist von jemandes „Arbeit“ im Konzentrationslager, vom „Schrecken“ (des Opfers wie der Täters?), von den „Wahlen“ (1938?), von dem, was „gesund“ und was nicht „gesund“ ist, von medizinischen Experimenten an Toten, immer wieder von Knochen, vom Verscharren einer Leiche im Garten, auch vom Versenken einer Toten im Wasser, von Angst, von einem Massengrab, von Wachtürmen und Brennöfen, von Schüssen und vom Haarescheren. Im Ganzen gibt der trotz aller Bruchstückhaftigkeit lange Dialog das Bild einer Generation ab, die sich in der Tages- und Jahresroutine ihres eigenen Lebens eingerichtet hat („küche“ und „garten“ als wichtige Schlüsselwörter), über das Vergangene nicht sprechen will und nach Möglichkeiten sucht, sich zu rechtfertigen. Nicht zufällig zitiert Utler mehrmals – am Anfang und am Ende des Bandes – den australischen Dichter Les Murray: „all present is perfect“. Das Gelingen der eignen Gegenwart scheint für die Großelterngeneration damals wie heute zentral zu sein; die Schuldgefühle und das nagende Gewissen versucht man mit routinierter Tüchtigkeit in Haus, Garten (und Beruf) zu überdecken.

Die Qualität dieser Gedichte liegt selbstverständlich nicht nur in dem Verfahren, das, worüber sich schlecht reden lässt, als Reduktion auf Wortebene kenntlich zu machen – das ist nur das Besondere an ihnen. Doch auch ohne diese Auslassungen wären sie nicht weniger interessant: sie sind voller Assonanzen, Binnenreime, Anaphern, Alliterationen und diverser Spielereien mit ähnlich klingenden Wörtern. Das Hauptverdienst der Autorin ist es, trotz Aussparung und Verschlüsselung dennoch zu sagen, was gesagt werden muss, und dabei immer auch eine ästhetische Wirkung zu erzielen. Gelegentlich stellt allerdings selbst der interessierteste Leser lapidar fest: „Schön, aber schwer verständlich.“ Da ist es nicht mehr weit zum Wunsch, die Texte in ihrer „ursprünglichen“ Form, also noch vor den Auslassungen und Reduktionen, zu lesen und in ihrer „normalen“ Vollständigkeit auf sich wirken zu lassen.

jana, vermacht.
Gedichte.
Wien: Edition Korrespondenzen, 2009.
112 Seiten, gebunden, mit CD (Texte gelesen von der Autorin).
ISBN 978-3-902113-62-7.

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autorin

Rezension vom 27.05.2009

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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