Er ist ernst, neigt zu Schwermut und Todessehnsucht, malt sich gerne allerhand aus, das geschehen könnte und ist dann doch nicht vorbereitet, wenn wirklich etwas geschieht. Sie ist fröhlich und spontan, findet die Leichtigkeit des Seins alles andere als unerträglich, liebt Bewegung und das Unerwartete und ist dabei selbst ein bisschen unerwartet: Sie fällt ihm auf, als sie einen Mini-Zug voller Touristenfamilien durch Bregenz fährt und dabei lacht, sich freut, dass die Kinder sich freuen, obwohl doch sonst in der Festspielhochsaison „die, die daran Geld verdienen, niemals Spaß“ daran haben, denn „Geld verdienen ist harte Arbeit, wenn es den anderen aus der Tasche gezogen werden muss“ (S. 14).
Wie Yin und Yang ziehen sie einander an, die starke Frau den schwachen Mann an ihre Seite. Er wird ein anderer, ein fröhlicher Mensch. Er wird spontan, ein bisschen wie sie. Von einem Tag auf den anderen lassen sie ihre Tourismus- und Festspiel-Jobs sausen und fahren los, verbringen einen Jahrhundertsommer miteinander, finden ihr privates Paradies in einsamen Buchten an der französischen Mittelmeerküste. Sie leben in den Tag hinein und in Sonne, Sand und Meer – bis dass der Herbst sie scheidet. Er geht zurück nach Wien an die Uni, setzt sein Studium fort, was sie macht, ist ungewiss. Er ist wieder der Alte, nur trauriger, stiller, antriebsloser als vorher. Bis sie eines Tages vor der Tür steht, bei ihm in Wien und zu ihm zieht und ihm zeigt, es war doch mehr als eine Sommerliebe. Aber auch was länger währt als einen Sommer, währt noch lang nicht ewig.
Raoul Biltgen hat mit seinem jüngsten Roman „Jahrhundertsommer“ eine spannende und spannungsreiche Liebesgeschichte geschaffen. Es ist ihm gelungen, große Fragen des Lebens in kleinen Szenen zu schildern. Der Stoff ist auf den ersten Blick archetypisch – aus enttäuschter Liebe plant einer seinen Selbstmord – bei genauerer Betrachtung liegen die Dinge doch anders, es bleibt bei einem (ziemlich ausgeklügelten) Plan. Biltgens Protagonist ist kein leidenschaftlicher Werther, er ist ein Mensch des 21. Jahrhunderts, beherrscht das Virtuelle, denkt Szenarien lieber durch als dass er sie ausführt.
Erzählt wird die Geschichte in zwei Teilen, die einander kapitelweise abwechseln: zu Beginn lernen wir einen pessimistischen Mann kennen, der sich in Wien einen Revolver besorgt und einen optimistischen Mann, der sich in Bregenz in eine junge Frau verliebt. Rasch wird klar, die beiden Männer sind verschieden, aber doch identisch. In einer anderen Lebensphase kann einer schon einmal ein anderer sein. Und klar wird auch, es sind der erste Teil und der zweite Teil der Geschichte, die abwechselnd erzählt werden. Dualität zieht sich durch den ganzen Text: der Roman spielt in zwei Städten, dreht sich vor allem um zwei Menschen in einer Zweierbeziehung, und auch wenn dann doch noch eine zweite Frau auftaucht, wird es doch keine Dreiecksgeschichte. Und häufig stehen (polare) Gegensätze im Raum. Es geht um Sein oder Nicht-Sein, Liebe und Einsamkeit, Leben und Tod. Auf der einen Seite steht der perfekte Jahrhundertsommer im romantischen Idyll einer verlassenen Bucht an der Cote d’Azur, auf der anderen die Vorstellung von einer Kleinfamilie in einer Wiener Mietskaserne. Und es gelingt nicht, sich dazwischen einzurichten. Nicht auf Dauer.
Auch die beiden Erzählstränge sind (zumindest zu Beginn) sehr gegensätzlich. Der eine, in Bregenz, getragen vom Glück der sich anbahnenden Liebe, poetisch und idyllisch, der andere in Wien, getragen von Verzweiflung, aber auch von Ironie. Da lässt sich einer zeitweise völlig gehen, kann weder zum Leben noch zum Sterben eine eindeutige Initiative ergreifen. Dann spielt er russisches Roulette mit sich selbst, lebt aber doch noch immer (zumindest oberflächlich) sein tägliches Leben. Trifft Freunde, hat Nachbarn, muss aufs Klo und geht duschen.
Raoul Biltgen erzählt in klarer, präziser Sprache, die einen von der ersten Seite an gefangen nimmt. Der Text entwickelt sich dynamisch, der Protagonist ist deprimiert, aber das Buch nicht deprimierend, vielmehr analytisch. Das Leben besteht aus wenigen großen Fragen und vielen banalen Details, die auch dazu gehören. Und vielleicht ist genau das das Geheimnis, warum der Roman nicht einen Augenblick kitschig wird. Biltgen nennt die Dinge beim Namen, schnörkellos, in einfachen, starken Worten. Jahrhundertsommer ist ein Buch, das man nicht mehr weglegen kann, bis die beiden Erzählstränge am Ende endlich eine einzige, eine ganze Geschichte bilden. Eine Geschichte mit einem ziemlich überraschenden Ende.