#Prosa

Jackls Mondflug

Birgit Schwaner

// Rezension von Lisa Spalt

Die historisch belegte Lebensgeschichte des im salzburgischen Werfen geborenen Bettlers Jakob Koller bildet die Folie für Birgit Schwaners Erzählung Jackls Mondflug. Der Sohn eines Abdeckers verschwand 1675 nach dem Feuertod seiner als Hexe verurteilten Mutter spurlos. Wenig später machten die ersten Gerüchte die Runde: Die Bettlerkinder, die ihn stets begleitet hätten, wendeten, so hieß es, Schadenszauber gegen Zahlungsunwillige an. Eine Serie von Hexenprozessen gegen vagabundierende Kinder, die zumeist mit Jakob Koller gar nichts zu tun hatten, war die Folge.

Im Gegensatz zu vielen dieser Unglücklichen entkam der historische Jackl seinen Häschern. Und ums Entkommen geht es unter anderem auch in Schwaners Buch. Hier bekommt der unglücklich geborene „Zauberer Jackl“ nämlich eine Zwillingsschwester, und diese Kreation ist ganz vom Machen der Poesie, dem „Poein“ geprägt, das durchaus als die Erzeugung von (geistigen) Transportmaschinen gesehen werden kann.

Es ist eine Zeit, in der die Fragen zahlreich sind, die Antworten und die Instrumente, die sie hervorbringen könnten, rar. Warum prallen Fledermäuse im Dunkeln nicht gegen Bäume? Diese von Schwaner exemplarisch aus dem umfangreichen Katalog der Zeit gegriffene Frage zeigt, was im 17. Jahrhundert geschieht, wenn Ratlosigkeit herrscht: Der Teufel ist, wenn ich hier ein Wort von Heinz von Foerster schamlos abwandeln darf, das Teilchen, das immer dann in die Theorien gesteckt wird, wenn sie Löcher haben.

Diese Erklärung wird aber auch herangezogen, wenn Menschen sich zu fragen beginnen, warum es Lebensbahnen gibt, die doch „für niemanden taugen“. Genau eine solche ist, wie bereits skizziert, dem Jackl beschieden. Seine Schwester Jakobine aber? Sie verkörpert eher das Prinzip des Aufbegehrens … Doch der Reihe nach: Nach einigen Kalamitäten – die Lebensbahn, die Jakobine vorgezeichnet ist, ist um nichts besser als die, die Jackl aufgezwungen wurde – wird das erdichtete Mädchen in Schwaners Text von einem fahrenden Geschäftsmann aufgenommen und entkommt so vorerst dem Bettlerinnenleben, allerdings nicht der traurigen Umwelt, nicht ihrer Zeit. Also versucht die poetische Schwester der Realität, inzwischen Pyrotechnikerin geworden, sich der elenden Gegenwart durch einen Flug zum Mond zu entziehen. Ein entsprechendes Gerät wird gebaut. Und es kommt, wie es kommen muss: Wie in der Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts nimmt die Konfrontation mit dem „echten Mond“, der so lange die Lyrik durchschwebte, dem Objekt der Begierde den lang gepflegten Glanz. Der romantischen Grundierung, die im Text immer wieder angedeutet ist, steht plötzlich die handfeste Erkenntnis gegenüber, dass Eichendorff, Novalis, Brentano und Co. die Nacht und den Traum wohl als Ausweg beschwören konnten, dass der symbolisch angebetete Mond aber eben am Ende doch ein Trabant der Erde ist, welcher deren Kalamitäten nur spiegelt. Auch hier ist der Mensch des Menschen Wolf, auch auf dem Mond scheint die Sonne nicht für die Armen. Das gesellschaftliche Problem wird durch den Wechsel des Umfelds noch nicht gelöst.

Das Poein, das Herstellen von Welt, muss daher einen Sehnsuchtsort beschwören, der erst noch anzustreben ist. Wie er aussehen könnte? Hier bricht der Text ab. Der Ort aber wird auf gewisse Weise schon lange vorher gesetzt, nämlich als eine überaus reiche, barocke Sprache, die Schwaner dem Elend der beschriebenen Armut entgegenstellt. Ein Feuerwerk an rhetorischen Mitteln wird in dem Buch auf die Lesenden losgelassen, die „Notwendigkeit“ klappt um in die „Todwendigkeit“, die „Nabelschnur“ in den „Nebelschlurf“, die Krähe wird neologistisch zum „Lenzpassier“, zum „Südwindprofiteur“, von Geräuschen und Klängen wird nicht nur gesprochen, die Laute werden lautmalerisch in die Gegenwart der Lesenden implementiert. Ein eigenwilliger Rhythmus durchzieht das Buch. Jeder Blick, der konstruiert wird, wird gleich wieder als Bild weitergesponnen – ja, das Schindergestänge könnte doch auch ein Pferdchen sein, ein stilisierter Mensch, …
Selten kann man beim Lesen so intensiv erleben, wie Wörter Realität erzeugen. Schwaner spricht diese sogar direkt an (eine besondere „rhetorische Figur“), scheucht die Wimmelnden zurück, diese geraten in einen richtigen Verdrängungswettbewerb. Das auf dem Blatt stehende Wort ist das, was sich am meisten in den Vordergrund geschoben hat. Auch hier kämpft man augenscheinlich ums Überleben. Und hinter den schließlich Privilegierten stehen eben immer andere im Schatten oder gehen leise unter.

Aber nicht nur der realistische Kampf, auch das Unmögliche, das von der frechen, unzeitgemäß bestimmten Schwester Jackl angestrebt wird, spiegelt sich in der sprachlichen Ebene des Textes, zum Beispiel dann, wenn die teleologisch voranschreitende Zeit plötzlich Verwicklungen erfährt: „Scheint, als wär in der vergangenen Welt … das meiste noch genauso beim Alten, wie bei uns das Neue“ (S. 10), heißt es da.

Diese Möglichkeit, mit Hilfe von Sprache das Unmögliche sprechend zu machen, wird einige Male genutzt. Die – durchaus immer wieder ironische – Behandlung der Allmacht des Erzählens bleibt aber nicht nur auf diese Weise spürbar. So fragt sich die Erzählerin einmal keck, ob es denn sein könne, dass die Sonne ohne ihr Zutun aufgegangen sei. Nein, das kann nicht sein, eben ließ sie doch noch die Nacht davonwanken – und diese Fähigkeit zum Wanken kann der Nacht nur die allmächtige Erzählerin gegeben haben. Sie ist es auch, die offen lassen kann, in welcher Jahreszeit, an welchem Tag der Jackl geboren wurde. Da müsste sich die verabredete Realität, inferior, schon entscheiden. Wie manche Maler in ihren Bildern kann die Poesie dagegen gewisse Stellen im Stadium der Skizze belassen oder den Hintergrund verschwimmen lassen, wenn die Erzählerin ihn gerade nicht für wichtig hält.

Sie allein hält die Zügel in der Hand, und sie lenkt den Text mit dem Blick einer emanzipierten Frau des 21. Jahrhunderts. So darf sie sich ruhig die Frage stellen, wie die Bärbel, die Mutter der beiden Jackls, wohl von innen aussehen mag. Diese Erzählerin ist keine Figur des Barock, sie verfügt bereits über den wissenschaftlichen Blick, den sie dem Teufelsglauben des 17. Jahrhunderts entgegenstellen und den sie in Form der Zwillingsschwester auch in die Realität der damaligen Zeit implementieren kann.

So wird die Frage, was die Leserin „sieht“ und was die Erzählerin „weiß“ zu einem literaturtheoretischen Metathema, das sich durchs Buch zieht: Kann die Erzählerin in Jackls Mondflug in die Bärbel hineinschauen, wenn das die Autorin nicht kann? Woher stammen die Erfahrungen, die die Erzählerin zum Besten gibt? Sind sie mit denen der Autorin identisch? Die Frage nach dem Wissen und Wissenkönnen ist auf jeder Ebene des Textes wichtig. Immer geht es darum, dass nur Wissen und Aufklärung aus der dunklen Zeit, die beschrieben wird, herausführen können, während die Religion nur mit dem Untergang, der Sintflut, droht, den Teufel vor seine Pforten stellt und als einzigen Ausweg aus allem Elend wieder einmal das Jenseits setzt.

Das Spiel, die Vorstellung dagegen bauen auf, wirken konstruktiv. Schwaner beschwört das Kinderspiel, das aus ein paar Ästchen eine Burg zaubern kann, als das Modell der Poesie. Ihr eigenes Pendant im Text ist auch die „zaubernde“ Bärbel, die Hundeschmalzmedizin mit geheimnisvollen Kräutern versetzt und die einzige Hoffnung vieler Leidender ist – aufgrund eines weiblichen Wissens, das in dieser Zeit nicht wirklich existieren soll. Konstruktivität und Konstruieren – man denke an die Mondrakete – sind in diesem Buch überraschend die Attribute der Frauen. Und so rückt die Allmacht der Erzählerin in ein anderes Licht, wenn sie beispielsweise nahezu technische Anleitungen gibt, wie Vorstellungen aufzubauen sind. Es geht hier um Technik, die beherrscht wird! Und die Techniken der Poetin liegen offen zutage, Schwaner zaubert bei Licht. Magie als Verblendung hat hier keinen Platz. Rhetorische Figuren werden offen entwickelt und nicht dazu gebraucht, die Lesenden einzulullen, sondern ihnen vielmehr Bewusstsein zu schaffen. Beispielsweise werden gleich zu Beginn anlässlich von Jackls Geburt medizinische Umstände beschrieben, die in der Zeit der beiden Jackls nur träumbar sind, sodass ihr Fehlen schmerzhaft spürbar wird, wenn Schwaner sie wieder aus dem Text verscheucht – auch wenn sie teilweise in ihrer Überentwickeltheit für uns schon wieder absurd erscheinen.

Das Manko wird in diesem Buch spielerisch gewendet, um ein überbordend besticktes Innenleben des dünnen Mantels zum Vorschein zu bringen. Das hat aber jedenfalls nicht wirklich etwas mit Verbrämung zu, sondern eher mit einem Aufruf zum Ungehorsam. Die bessere Welt erträumen die, die unter der schlechten leiden. Und das sind nicht selten die, die der Pfarrer aus dem Kreis der Ehrenwerten ausschließt: die Schinderinnen, die Poetinnen, die heilenden Frauen. Die Erzählerin, die kleine Jakobine und in gewissem Maß auch Bärbel aber entfernen sich mit ihren Techniken, ihrem Wissen von dort, wo der Pfarrer Menschen zu „Vogelfreien“ erklären kann – eine Entfernung im räumlichen, aber vor allem im geistigen Sinn. Und so können schimmernde Wortfäden den Text durchziehen, und Schwaner kann mit ihrem üppigen kulturhistorischen Wissen glänzen. Wissen ist Macht. Wir verlassen diesen Raum voller Vexierspiegel daher trotz der nahezu ausweglosen Armut der Protagonisten mit dem Gefühl, in einem Reichtum anderer Art gebadet zu haben, der die Ankündigung einer kommenden Freiheit sein kann.

Jackls Mondflug.
Erzählung.
Wien: Klever Verlag, 2018.
128 Seiten, broschiert.
ISBN 978-3-903110-24-3.

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autorin

Rezension vom 20.08.2018

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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