Nahtlos zusammen gehen bei ihm aber auch Prosa und Poesie. Was oftmals scheinbar als Verszeile daherkommt, erfüllt sich auf den zweiten Blick oft in einer Art Liste, auf den dritten ist es doch wieder etwas ganz Anderes, das durchaus „schlicht spricht“. „Sois toujours poète, même en prose“ („Sei immer Dichter, auch in der Prosa“), meinte einst Charles Baudelaire. Wimmers Texte kommen oft so schlicht daher, sie bewegen sich immer vorwärts, aber eben nie geradeaus. Kleine Textteile, einzelne Wörter interferieren mit allen möglichen Einflüssen, sie kämpfen sich ihren Weg durch den Dschungel von Bewusstsein, Wortfeld, von Stadt und Empfindung, sie nehmen überall etwas mit oder lassen Teile ihrer Kleidung an irgendwelchen dieser Hindernisse oder Dimensionen hängen. Blaunsteiner, ein Transformator, ist das, was die Texte zusammenhält, was die Textwelt ist, er ist der Kleber des Bewusstseins, ein was auch immer, das als Lückenfüller sich erfüllt. Sein Leben ist Bewegung, aber eben auch Kleben, ein Bleiben. Nur: Was bleibt, was beliebt? Diese Texte erscheinen einem jedenfalls wie lebende Wesen, die man wiedererkennt, auch wenn sie plötzlich eine andere Frisur haben. Vielleicht wäre es sinnvoll, sie als Gestalten zu bezeichnen? Ja, Gestalten sind sie, aber im Sinne des Paradoxons von Theseus’ Schiff, an dem im Laufe der Zeit jeder einzelne Teil ausgetauscht wurde: Ist es am Ende noch Theseus’ Schiff?
Wenn ich die Texte in INTERFER nicht von der Warte der Leserin, sondern von der von mir imaginierten Seite des Machers betrachte, ist das Fortkommen mit ihnen eines, das einem ständigen Probieren entspringt. Da bewegt sich jemand mal vor, mal seitwärts, mal im Kreis, trägt dabei, laufend, immer das Baby des Textes, des Bildes vor sich her. Alles reagiert auf alles und auf jede Person, eine sinnliche Angelegenheit ist das, etwas aus gekauten, geklauten Lauten oder weichen, gesprochenen und harten, geschriebenen Zeichen. Ganz nebenbei lotet Wimmer mit diesem Interferieren „die grenzen der metafer“, des „anderswohin Getragenen“ aus, er postuliert: „schreiben heisst zusammenführen, zusammenführen heisst ineinanderführen, ineinanderführen heisst ineinanderrühren, ineinanderrühren heisst schreiben.“ (14) Die Lust am Bewusstsein, an den Vorgängen im eigenen Inneren, am Durcheinanderragen von Gegenwart, Vergangenheit, Zukunft und Möglichkeit, am Geschmack der Sprache interferiert mit dem, was man sagen will und mit dem, wie man es sagt, und daraus resultiert: „inhalt ist privatsache, sagt blaunsteiner öffentlich zu sich.“ Und dabei muss unbedingt mitgedacht werden, dass zu allem Überfluss auch noch die Lesenden mit dem Text interferieren, mit ihm zusammengerührt werden, in ihn hineinragen, um etwas zu übertragen oder übertragen zu bekommen im Sinn des „metaphérein“, die Lesenden „durchdringen“ den Text, wie man früher vielleicht den Versuch des Verstehens beschrieben hätte, aber natürlich auch umgekehrt. (11) Und dieser Ausdruck der Durchdringung des Textes passt für das Lesen dieser Interferenzen bestens. Um ein Verstehen im landläufigen Sinn geht es ja nicht. Oder, wie Wimmer es ausdrückt: „kunst ist, im besten falle, auf eigene, produktive weise nicht zu verstehen, was die anderen menschen auch nicht verstehen, insofern ist verstehen keine kunst.“ (22)
Die Texte so betrachtend, ergibt sich ein Hinweis auf die Art des Lesens, die hier geübt werden kann: eine, bei der man sich mit und in Blaunsteiner durch Texte bewegt wie durch Stadtteile, bei der man ihnen begegnet wie Personen, eine, in der die Texte einem begegnen als Welt, die mit dem eigenen Kopf, mit dem eigenen Körper Teilchen austauscht. Das ist ein Strom, der durch einen fließt, in dem man fließt, in dem Formen wiederkehren, aber das Wasser ist stets neues, da gibt es Perspektivenverschiebungen, wie wenn man um eine Häuserecke geht und Teile der Stadt sich schrittweise verzerren, verschwinden, auftauchen. „entdecke das radikalkonstruktive drehmoment“ (23) heißt die Blaunsteiner-Devise. Und dabei ist die Repetition in der Bewegung ein wichtiges Datum. Kaskaden von Permutationen machen genau das, was Nelson Goodman von der Exemplifizierung will: Sie besitzen die Eigenschaft, permutativ zu sein und verweisen gleichzeitig auf die Permutation als Eigenschaft unseres denkenden und fühlenden Probierens. Die Texte werden so zu so etwas wie Songs. Tatsächlich entfaltet sich ihre Wirkung für mich oft am besten, wenn ich sie mit einer inneren Stimme lese, wie eine Partitur.
Vier Abschnitte weist das Buch INTERFER auf: Da sind zum ersten die „INTERFERENZEN“, dann geht es weiter mit „HOHLRÄUME / HOHLTRÄUME“, in denen Wimmer Fremdmaterial aus Printmedien zu Gefäßen montiert, in die man sich selbst einbringen muss. Besondern schön dann der dritte Abschnitt des Buches: die „MISSVERSTÄNDNISSE“. Hier agieren die probierenden Tentakel bereits wilder, tasten sich ungeregelter durch das Dickicht, werden von den Schlingpflanzen des Anderen durchtastet. Die Kalauer purzeln, die Erkenntnisschübe kennen kaum mehr Schranken. Schließlich folgt der APPENDIX, in dem die Interferenzen nur noch in kurzen Notaten angerissen werden. Wenn uns der Titel darauf vorbereitet und der Text uns in diversen Techniken des Interferenzen-Beobachtens angelernt hat, lässt er uns hier nun noch mehr Freiraum, uns selbst einzuarbeiten, uns in den Text (hin)einzumischen. Und dann gehen wir raus aus dem Text, oder er verlässt uns oder eben auch nicht. Die Wirkung hält noch einige Zeit lang an. Wir können nicht anders, verharren in der „kalauerstellung“, erzeugen – zumindest für einige Zeit – selbst ein „transversationslexikon“ unserer Lebenswelt, da stellt sich der erste Kalauer ein: Wenn die Welt für einen Moment eindimensional würde, wären das nicht höchstens „Interferienzen“?