#Roman

In hellen Nächten

Sebastian Schinnerl

// Rezension von Georg Renöckl

„Aus allen Windrichtungen kommen die Einheimischen über die Hügel. Sie laufen geduckt, die Arme mit zum Zupacken gemachten Händen steif nach hinten abstehend. Verkrümmte Seelen nah am Zwergengeschlecht. In der Landschaft sind sie schön, in der Annäherung werden sie fremdartig und von Angesicht zu Angesicht ist man fremd.“

Es ist kein schmeichelhaftes, aber schneidend scharf beobachtetes und bitter komisches Porträt seiner Schweizer Wahlheimat, das der Vorarlberger Autor Sebastian Schinnerl (Jg. 1960) mit seinem zweiten Roman In hellen Nächten vorlegt. Man ist versucht, dem Buch das Etikett Anti-Heimatroman aufzukleben, der Plot würde jedenfalls zum vertrauten Schema passen: Gemeindepolitiker, Banker und Großbauern wollen am Dorfrand eine luxuriöse Wohnanlage errichten, ein störrischer Kleinbauer und dessen alter, verfallender Hof stehen dem neuen Flächenwidmungsplan jedoch im Weg. Spätestens als in dem baufälligen Haus die Leiche des Jungbauern Christian Stalder gefunden wird, der längst nicht mehr Besitzer des väterlichen Hofes ist, glaubt man sich als Leser mitten drin in einem etwas vorhersehbaren Alpenkrimi, zur Abwechslung einmal aus der Schweiz.

Tatsächlich scheut Sebastian Schinnerl die Klischees aus dem Anti-Heimat-Genre nicht. Der Autor gewährt tiefe Blicke hinter die properen Fassaden seiner Dorfhonoratioren: Der Gemeindepräsident kann seit der Geburt seines Kindes nichts mehr mit seiner Ehefrau anfangen und fährt daher vor der Arbeit regelmäßig zur polnischen Dorfhure. Ein zugereister Agrarökonom will brutal die Macht im Dorf übernehmen, während die seelisch verkümmernde Vorzeigegattin nur noch unter Einfluss von Beruhigungstabletten in die Konditorei fahren kann, um dem Ehetyrannen etwas Leckeres zu kaufen. Der Pfarrer muss noch schnell den Geschlechtsakt mit seiner Haushälterin zuende bringen, bevor er sich um das Begräbnis Christian Stalders und den wartenden Kommissar kümmern kann. Während der Beerdigung feilschen die anwesenden Großbauern dann um Kalbfleischpreise.

Das alles könnte vorhersehbar oder etwas langweilig-engagiert wirken, wäre da nicht Sebastian Schinnerls ansteckende Lust am Grotesken, der dunkelschwarze Humor, von dem die Erzählung durchtränkt ist, und die sprachliche Souveränität, mit der er die Brutalität des Kampfes um Geld und Macht im Alpenland schildert und den Horror des alltäglichen Zusammenlebens zu eindrücklichen Szenen und Dialogen verdichtet.

Dem Dorf ist längst die Seele abhanden gekommen, ein paar alte Häuser werden im Verbund mit wuchernden modernen Einheitssiedlungen zur „im Grunde genommen vollkommen übersichtlichen Landschaft mit einer im Grunde genommen verschwundenen Bevölkerung“. Ähnlich verhält es sich mit der Sprache der Dorfbewohner, deren bäuerlicher Dialekt von wirtschaftsliberalen Propagandaphrasen durch- und zersetzt ist. Wirtshausgespräche am Kartentisch klingen zwar archaisch-dadaistisch: „Saftferggel, murrte einer und legte seine Spielkarte in die Tischmitte. Auf den Gesichtern erblühten die wunderlichsten Einbildungen. – Vortili, kam die nächste Karte flach geflogen. – Fürwand. – Ruesstili. – Schloff. – Chemmischooß! – Tüchel … her mit dem Batze. – Obacht. – He ho. – Sappermost.“ Wenig später jedoch sagen die daran Beteiligten dann Sätze wie „Die Zeit der Streicheleinheiten ist vorbei, der Strukturwandel ist längst nicht durchgestanden“ oder applaudieren dazu.

Wie bereits in seinem Debütroman Pluton oder Die letzte Reise ans Meer mischt Schinnerl Übersinnliches in die realistische Erzählung: Ein alemannisches Sagenweiblein in Begleitung eines Wolfsrudels erscheint immer wieder geistig eher minderbemittelten Dorfbewohnern und verheißt nichts Gutes, Tote tauchen gelegentlich wie selbstverständlich wieder auf.

In der Mitte des Buches, als alle am Drama um den Tod des Jungbauern Beteiligten versammelt sind, ein Kommissar aus der Hauptstadt Ermittlungen zu führen beginnt und der Leichnam begraben ist, bricht der sich langsam zuspitzende Krimi jäh ab. In einer spiritistischen Sitzung beim Totengräber, an der auch das Sagenweiblein und die Tochter der Dorfhure beteiligt sind, wird Dorftrottel Stargate zum Medium, durch das der tote Christian Stalder seine Geschichte erzählt. In der folgenden Ich-Erzählung, die gut die Hälfte des Romans ausmacht, ist ausführlich von Christian Stalders Eltern die Rede, der romantischen Hippie-Mutter und dem simplen Kleinbauern, den sie geheiratet hat, und vom Heranwachsen des seit jeher unangepassten Christian. Auf eine magisch-unbeschwerte frühe Kindheit im Bauernhof und in der Natur folgen eine schreckliche Schulzeit als Außenseiter, erste sexuelle Erfahrungen mit den nach Modelabels klingenden Geschwistern Jil und Daryil und eine Pubertät voll Alkohol und lauter Musik. Währenddessen häuft der gutgläubige Vater auf Anraten der hinterlistigen Dorfhonoratioren einen Schuldenberg an. Die Mutter stirbt früh, der Vater beginnt dahinzusiechen, das Elternhaus geht an die Bank verloren.

Ohne Hof, mit einem bisschen Geld, seinem Auto und dem ständig betrunkenen Daryil auf dem Beifahrersitz macht sich Stalder schließlich auf die Fahrt ins Ungewisse. Nach Kuba ginge er gern, im Alkohol- und Drogenrausch schafft er es nur in Städte, deren Namen er nicht kennt. Die Reise endet schließlich in einer weiteren ungenannten Stadt, bei der es sich wohl um Bern handelt. Zurück ins leere Elternhaus schafft er es nicht mehr lebendig.

Auch in diesem zweiten Teil stellt Schinnerl seine Beobachtungsgabe unter Beweis, bietet seinem Ich-Erzähler etwa eine „zackige Pensionistinnengruppe in militärischer Formation“ Anlass zu folgendem Kommentar: „Jede die Vorbildliche in der Gruppe. Und jede mit jedem Jahr einsamer und mit jedem Jahr perfekter.“ Die mythologisch-raunende Sprache des ersten Teils mit ihren irrwitzigen Bildern macht in der Ich-Erzählung jedoch weitgehend einem jugendlich empört klingenden Erzählton Platz. Auf seiner verzweifelten Fahrt ins Nirgendwo philosophiert der gescheiterte Jungbauer über Großstädte und die Konsumgesellschaft, seine Gesellschaftskritik wirkt jedoch – vielleicht stimmig – etwas platt. Manches, das der erste Teil des Romans nur andeutet, wird hier klar ausgesprochen, gelegentlich ein bisschen zu klar: „Weil wir neben den Ereignissen gelebt hatten, wurden wir ausgelöscht. Dem staatsverordneten Auftrag unserer Auslöschung, dieser brutalen äußeren Gewalt, wussten meine Eltern nichts entgegenzusetzen. Der unglaubliche, menschenverachtende Schwachsinn einer humanen Welt.“

Offen bleibt, wer mit den an die Odyssee gemahnenden Lotophagen gemeint ist, mit denen der Roman einsetzt und endet. Die homerschen Lotosesser vergessen durch den Verzehr der geheimnisvollen Früchte die Heimat und fühlen sich trotz des augenscheinlichen Elends, in dem sie leben, glücklich. Vielleicht bezieht sich das Bild ja auf Christian Stalder, der seiner Verzweiflung im Drogenrausch zu entkommen versucht. Vielleicht aber auch auf die Dorfbewohner, die im Macht- und Geldrausch nicht erkennen, dass die von ihnen geschaffene, brutale Welt, in der sie leben, unendlich weit von der alten Heimat entfernt ist.

Sebastian Schinnerl In hellen Nächten
Roman.
Salzburg, St. Pölten: Residenz, 2008.
331 S.; geb.
ISBN 978-3-7017-1493-3.

Rezension vom 19.05.2008

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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