Denn „[d]u bist ich, sagst du. Und ich du“ liest es sich auf der allerersten Seite. Auf der zweiten dann: „Du bist Doro Grimm.“ Autorin Irmgard Fuchs treibt dieses Verwirrspiel weiter, schreibt ihren ganzen Roman in der zweiten Person Singular, im ganzen Buch ist das Ich ein Du. Ein Du nämlich, das einen direkt und ohne Umschweife anspricht und das, wenn auch anfangs unangenehm und fast schon aufdringlich, tatsächlich eine starke Wirkung hat. Es ist die Stimme der Sehnsucht.
Diese Stimme erzählt uns die Chronik eines Ausbruches. Sie trägt die Vergangenheit in die Gegenwart, das Jetzt ins Vergangene und das Gemeinsame in die Zukunft, in die kommenden Nächte. In kurzen, manchmal etwas zu bedeutungsschweren abgehackten Sätzen gibt sie die Ereignisse im Leben der Doro Grimm wieder, wobei diese punktuellen Erzählungen sehr allgemein etwa mit „letzten Donnerstag“ oder „In den Nächten“ übertitelt und also auf gewisse Weise auch wieder zeitlos sind.
Was aber ist bei Doro Grimm so falsch gelaufen, dass sie Hals über Kopf in die Wohnung einer Fremden einzieht und alles hinter sich lässt, was zuvor ihr Leben prägte? Ihren Job in einem Architekturbüro verlässt sie genauso überstürzt wie ihre große Liebe. Mit noch eingeschaltetem Herd und unfertigen Abschiedsbriefen flüchtet sie und findet Unterschlupf in einer Wohnung, deren Besitzerin vorübergehend auf Weltreise ist. Genau das, nämlich dass sie auf Weltreise sei, erzählt sie auch ihrer Mutter – der einzigen Person, der sie noch annähernd Rechenschaft ablegt. Ihren neuen Rückzugsort findet sie genauso in einer beliebigen Millisekunde angehalten vor wie auch ihr eigenes Leben: Unterhosen, die noch so daliegen, als wäre ihnen gerade ihre Besitzerin entstiegen, liegengelassene Lebensmittel, aufgeschlagene Reiseführer. In denen kann Doro stundenlang blättern, geht zwischen Buchseiten auf ihre eigene kleine Weltreise und bewahrt eine überraschende Ruhe angesichts ihrer selbst erwählten Ausnahmesituation.
Eine solche Ausnahmesituation herrscht auch um sie herum, hat sich geradezu von ihr auf die Umgebung übertragen: Denn eine große Hitzewelle ist über die anonyme Stadt hereingebrochen. Vögel sterben zuhauf und fallen vom Himmel, Doro sieht ihren eigenen Körper schmelzen und ein Toter, den niemand vermissen wird, liegt auf der Parkbank. Vielleicht erklärt die Hitze ja diese seltsame Lethargie, die Doros Sehnsucht beiwohnt? Oder ist Lethargie eine Fehlinterpretation der absoluten Selbstverständlichkeit, mit der Doro Grimm sich in ihrem neuen Leben bewegt? „[Mir ist es] durch und durch unbegreiflich geworden, was man eigentlich tut, wenn man lebt jeden Tag.“ (82) schreibt sie in einem ihrer Mailentwürfe an ihren ehemaligen Elmar. Wie um dem zu widersprechen lebt sie dennoch weiter, wartet einfach ab, lässt die Zeit vorübergehen. Kopflos zieht sie durch das unbekannte Bekannte, betrinkt sich manchmal, kostet ihr verloren gewähntes Alleinsein aus, beobachtet ihre Nachbarn gegenüber, die sie mit Kanarienvogelnamen tauft. Mit Kuki und Maro führt sie imaginäre Gespräche, sieht sie in den Fenstern gegenüber fast wie einen Spiegel ihrer eigenen Beziehung. Sie sieht nicht fern, sondern sieht die beiden in der Ferne. So wie fast alles in diesem Roman von einer starken Metaphorik durchzogen ist, sind sie ihr ein Spiegelbild, dienen zur Reflexion, tragen zu Doro Grimms märchenhaften Ausbruch aus ihrem Leben bei.
Irmgard Fuchs würzt die Sehnsucht mit einer großen Prise Verzweiflung. Oder wie lässt sich das Gefühl an jener Schnittstelle beschreiben, wo die Vorstellung von Glück auf die Realität prallt und sich unaufhörlich an ihr reibt? Immer wieder wird hier gefragt: Was ist die Messlatte von Glück? Was passiert, wenn man eigentlich zufrieden sein soll, es aber nicht ist? Und das Buch gibt die Antwort: Es geht weiter. Es geht trotzdem immer weiter. Sehnsucht scheint die Vorstufe von Glück zu sein, Glück selbst aber ist rar. Denn wann stimmt schon der Entwurf vom Leben mit dem Leben überein? An exakt diesem Punkt spielt sich der Roman ab. „Weißt du, der Trick mit dem Glück ist, eben immer nur das zu wollen, was man hat“ sagt der kluge Elmar einmal in die Dunkelheit der Nacht hinein (150). Und Doro? Doro wacht gerne in ihrer geborgten Wohnung mit den bunten Tapetenvögeln auf und legt regelmäßig Hirse für andere gefiederte Besucher auf ihr Fensterbrett. Am Ende glaubt man zu wissen, warum. Denn wie sagt man doch gleich? Das Glück ist ein Vogerl.