#Sachbuch

Imaginäre Bibliotheken

Dietmar Rieger

// Rezension von Evelyne Polt-Heinzl

Die Zahl der Bibliotheksfiktionalisierungen und ihrer literaturwissenschaftlichen Erforschung und Katalogisierung ist in den letzten Jahren im Gefolge des auch als Kulturschock erlebten Medienwechsels von der Schriftkultur zu digitalen Speicher- und Verarbeitungssystemen beständig gestiegen. Was Dietmar Riegers sehr umfangreichen Band über Imaginäre Bibliotheken von der Flut dieser kurrenten „Buch im Buch“-Forschung abhebt, ist die Suche nach dem Bild der Bibliothek als Metapher, wie sie sich vom Mittelalter bis zum Fin de Siècle entwickelt hat. Es geht hier also nicht um einen Blick zurück, der geprägt und gebannt ist von Verunsicherungen wie Hoffnungen des aktuellen Paradigmenwechsels, sondern um das Bild der Bibliothek als veränderliche Metapher für den Umgang der Gesellschaft mit Wissen und kollektivem Gedächtnis.

Riegers Rundgang nimmt seinen Ausgang dort, wo am Beginn der Neuzeit mit dem Verlust der Totalität des Buches / der Heiligen Schrift die Bibliothek an Komplexität zunimmt, wo sich ihre Aufgaben verändern und diversifizieren und sie damit an Faszination gewinnt. Das impliziert nicht nur qualitative, sondern auch quantitative Sprünge. Mittelalterliche Klosterbibliotheken hatten selten mehr als 300 Bände, noch im 15. Jahrhundert sind Büchersammlungen jenseits der Tausendermarke – wie jene Pico della Mirandolas mit 1190 Bänden – die Ausnahme. Ihren Eintritt in die fiktionale Literatur erlebt die Bibliothek daher erst vergleichsweise spät.

Anhand der Bildtradition „Der heilige Hieronymus im Gehäuse“ entwickelt Rieger die allmähliche Herausbildung der Studier- und Gelehrtenstube hin zur Bibliothek. Voll ausgeformt finden wir sie dann in Montaignes Bibliothek im Turmzimmer. Mit dem freien Rundblick auf die Welt draußen ist sie Symbol der notwendigen Absonderung und zugleich der inhaltlichen Öffnung der Bibliothek für die reale Außenwelt, wie sie sich im Anwachsen der naturwissenschaftlichen Buchbestände manifestiert.

In der Folge analysiert Rieger Ausformung und Funktion der fiktionalen Bibliothek in literarischen Utopien ebenso wie den Symbolwert brennender Bibliotheken als Ausdruck der Subversion von Machtstrukturen, Befreiung von livresker Obsession (wie in Don Quijote) oder auch notwendiger Modernisierungsschübe. Das komplexe Verhältnis von fiktionaler Bibliothek und Kanonbildung wird deutlich in der vielfach gebrochenen Ambivalenz der Bibliotheks-Metapher von der Romantik bis zum Ästhetizismus. Die Tradition der Bildvorstellung Bücherschlacht im Schlachtfeld Bibliothek wird dabei ebenso betrachtet wie die ins 6. Jahrhundert zurückreichende Figur des geistlosen Büchersammlers, der von den Inhalten gänzlich abstrahiert. Eine besondere Ausformung erlebt dieser Typus des Bibliomanen in der literarischen Moderne um 1900 in der aristokratischen Bibliothek des Dandy (wie etwa bei Huysmans), die ihre gesellschaftliche Bedeutungslosigkeit verkündet, „indem sie den subjektiven Bezug gegenüber der Bindung an die Wirklichkeit […] durch ihre bibliophile und ästhetizistische Bestimmung verabsolutiert“ (S. 373).

Die literarischen Beispielreihen entnimmt Rieger überwiegend der französischen und italienischen Literatur, was für den deutschen Leser eine spannende Ergänzung zu den Arbeiten von Klaus Döhmer oder zuletzt Günther Stocker ergibt. Für die oft ausführlichen Originalzitate nützlich ist die Kenntnis zumindest einer romanischen Sprache. Überhaupt verlangt die Lektüre aufgrund der Häufung sehr langer, komplexer Satzperioden dem Leser einiges an Disziplin ab. Bedauerlich ist der Verzicht auf eine Literaturliste im Anhang, Literaturhinweise müssen so etwas mühsam dem üppigen Fußnotenapparat entnommen werden.

Dietmar Rieger Imaginäre Bibliotheken
Bücherwelten in der Literatur.
München: Wilhelm Fink, 2002.
389 S.; brosch.; m. Abb.
ISBN 3-7705-3679-7.

Rezension vom 14.05.2002

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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