#Lyrik

Im Weidemass der Zeit mein Unterpfand

Gerald Nigl

// Rezension von Günter Vallaster

Gerald Nigl ist zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung zunächst als Autor in Erscheinung getreten und debütierte 1991 in der Edition „Das fröhliche Wohnzimmer“ mit dem Band „blick. steigt. (hinab)“, Montagen aus fünf Hymnen Friedrich Hölderlins. In der Folge wandte er sich immer mehr der bildenden Kunst zu, mit Gemälden, die Farben, Formen, Figuren und Strukturen intensiv erforschen und ausdrucksvolle Bildwelten schaffen.

Eine inzwischen umfangreiche Werkserie ist mit „Wächter“ oder „Wächterin“ benannt, wohl um Fragen nach der Darstellung sowohl einen Riegel vorzuschieben als auch einen Richtungsweiser in die Hand zu reichen, ein „Erkenne dich selbst“ und „Erkenne das Bild“, auch die Wachsamkeit der Kunst schwingt hier programmatisch mit und nicht zuletzt eine Ebene der Korrespondenz zwischen Strich- und Farbbewegungen und Portraitzügen. Nach einem starken literarischen Intermezzo mit „Die Schalen des Zorns 122 Skizzen 6 Motti ein Roman“ 1998 in der edition selene verbindet Gerald Nigl seit einigen Jahren die Literatur und die bildendene Kunst, mit Lesungen und Ausstellungen, literarischen Publikationen und Künstlerbüchern, wie zuletzt „Der Wächterin Hand am weißen Papier inmitten der Augen ein Paar, inkl. Originalgraphiken“ (Edition Damm, 2017) und „Almanach / Kunstbuch“ (Edition Augenweide, 2015).

Jüngstes Zeugnis davon legt der vorliegende Lyrikband ab, der in der von Erika Kronabitter mit viel Engagement betriebenen Reihe „Lyrik der Gegenwart“ der edition art science von Raimund Bahr erschienen ist. Dem Montage-Verfahren ist Gerald Nigl darin treu geblieben, wenn auch ein wenig freier ausgelegt, nämlich als „Sprachpartikel aufsammeln“ nach dem Prinzip eines „Cross Readings“, wie es der Autor selbst nennt. Als Ausgangstexte dienten Lyrikbände von Petra Ganglbauer und Christine Huber, mit denen er in poetischen Dialog tritt und damit auch den Umstand zum Stilmittel erhebt, dass literarisches Schreiben oft auch ein intertextuelles Schreiben ist, das sich an Referenztexten orientiert. Den 57 daraus entstandenen Gedichten sind die Ausgangstexte indes nicht unbedingt anzumerken, zumal sie sich doch deutlich vom Stil und Duktus der beiden Autorinnen unterscheiden und von Gerald Nigls eigenständiger Handschrift getragen sind – der Handschrift eines Autors, der auch bildender Künstler ist. Da wird gleich zu Beginn des Bandes einer Leinwand gleich die Welt aufgespannt und das Sprach-Mal-Material bereitgelegt: „Die Welt / so unlauter laut / eingeweicht in Düsternis / dein Phäno:Klang, ein Spiel / im Zeit:Takt unsres Lebens:Spiels / aufgewickelter Minuten / Oh, Du! Oh, Du, Du, oh Du! / Ein Duftriegel aus deinem Dir / heraus herausgeschnitten / dich stürmisch zu begrenzen / schloss schlussendlich / mein Leben, dies verhaucht“ (S. 8). Das lässt an Kurt Schwitters’ „An Anna Blume“ denken, das „Du“ darin, das mit 27 Sinnen durchdekliniert wird, und die poetische Erfassung der Sinneserfahrungen ist in der Folge ein zentrales Merkmal der Gedichte, „meiner 1000 Sinne Übermaß“ (S. 61). Nicht alleine das Hören und Sehen, auch das Fühlen, Riechen und Schmecken präsentieren sich als wichtige Themen der lyrischen Auseinandersetzung: „Ganz in Weiß / fest geknallt das Leinen am Rahmen / Stromlinien:normale Ausdunst / deines Geruchs aus dir / am hellen Tuch – Frottier:Gefühl“ (S. 11).

Leitmotivisch tritt die „Geliebte“, an manchen Stellen „Gefährtin“ genannt, in nahezu allen Gedichten auf, wodurch sie die Charakteristik von Oden erhalten: Oden an die Welt, die Natur, das Mensch-Sein, die Suche nach einem harmonischen „Wir“ – „Glühender Dank! / Dir, Du, Geliebte, dem Wir!“(S. 80) – das es dem dissonanten „Wir“ entgegenzusetzen gilt: „Ach ja: Wir / FLIESSBAND-NARREN / unter uns, dicht an dicht“ (S. 93). Staunen, Schauen, auch Horchen sind als philosophische und poetische Grundkonstituenten in allen Versen präsent, besonders in den Naturbetrachtungen, die auch als Natur-Rückgewinnungen interpretiert werden können: „Wie um zu spotten in Häme / und Schund blühen am / Wegesrand bunt, Kristalle“ (S. 82). Mit vielschichtigen Sprachbildern wird die Natur, besonders die (alpine) Bergwelt von der platten, eindimensionalen und reaktionären Volkstümelei befreit: „PS: / Unvergessen bleibt das böse Unrecht, / am Berg, in den Hütten und Lagerstätten / der Vereine, wo allzu oft einerlei Mensch / in Rassen vermessen mit zweierlei Maß / gemessen wurde, den Liedern und Schwüren / vom Kameraden vom Berg zum Trotz, / auf ewige Schand!“ (S. 83)

Und in allen Versen mahlen die Mühlen der Zeit, das weitere große und auch titelgebende Leitmotiv des vorliegenden Gedichtbandes, womit sich „Im Weidemass der Zeit mein Unterpfand“ als überaus ansprechende literarische Unternehmung darstellt, den Zeitbegriff in all seinen Auffächerungen, von der subjektiven Zeit bis zur „objektiven“ Zeit, die der Natur eingeschrieben ist, vielschichtig und spannungsreich zu fassen. Verse wie „mit Verlaub der Verschleiß / an Zeit:Zeigern ist ein Scheiß!“ (S. 52) oder „Der Tages:Zeit:Abbau über Jahre / mühevoll die ungezählten Stunden / sind uns Eis geworden und horch!“ (S. 75) seien als illustrative Belege dazu angeführt. Die Verse laden dazu ein, sie stets neu zu lesen, um weitere Schichten und Aspekte in den beeindruckenden Sprach-Bild-Kaskaden zu entdecken. Dabei hat der Blick auch den raffinierten Details zu gelten, wie sie etwa Gerald Nigls Doppelpunkt-Komposita entfalten.

Die zusätzlich abgedruckten Graphiken mit dem Titel „Wächterinnen“ und die als Mottos eingesetzten Zitate von Bruce Lee, Astrid Lindgren und John Lennon runden den Band noch ab. Bemerkens- und anerkennenswert ist auch, dass jeweils ein Gedicht des Buches Bodo Hell, Hansjörg Zauner und Kurt Neumann gewidmet ist.
Ein Lyrikband, in dem Gerald Nigl gleichermaßen avancierte Sprachkunst wie auch bildende Kunst grandios zusammenfügt.

Gerald Nigl Im Weidemass der Zeit mein Unterpfand
Lyrikband.
St. Wolfgang: edition art science, 2019.
118 S.; brosch.
ISBN 978-3-902864-95-6.

Rezension vom 05.11.2019

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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