#Roman

Im Ruin

Barbara Kadletz

// Rezension von Katia Schwingshandl

„Mein Ruin ist mein Bereich
Denn ich bin nur einer von euch
Mein Ruin ist was mir bleibt
Wenn alles andere sich betäubt.“

… so sangen Tocotronic 2007. Tocotronic fanden Interpretationen ihrer Songtexte immer eher überflüssig, beim Roman Im Ruin von Barbara Kadletz hingegen ist das durchaus angebracht.

Auch Protagonistin Katharina ist ihr Ruin geblieben. Bei diesem Ruin handelt es sich allerdings um ein kleines, schummriges Lokal, benannt nach dem Tocotronic-Song, vollgestopft mit Büchern und Musik – dort, wo in Cafés Kuchen in der Auslage sind, stehen im „Ruin“ Schallplatten. Im „Ruin“ hält man Traditionen hoch, zu Weihnachten werden unliebsame Geschenke an neue Besitzer*innen verteilt, zu Neujahr fleißig Walzer getanzt und skigesprungen, eigene Themen-Mixtapes erstellt, sprich: Katharina ist stolze Besitzerin eines Lokals mit Wohlfühlfaktor und Stammlokalpotenzial. Wer sich trotz des Namens durchringt und es betritt, trifft auf deren beste Freundin, die Kellnerin Sabina, auf Max, den plauderwütigen Stammkunden und neuerdings trifft man auch auf Ari, den geheimnisvollen Neunzehn-Uhr-Gast, der wie aus dem Nichts aufgetaucht ist, die heimeligste Nische besetzt hält und es sich angewöhnt hat, die Speisekarte (auf der sich unter anderem das „Bilderbuch-Frühstück“ befindet) von oben bis unten durchzubestellen. Das Credo von Katharina und Sabina ist die Wirtinnenpflicht, ihren Gästen die eisigen Splitter aus den Herzen zu ziehen, und obwohl Katharina in letzter Zeit recht lethargisch ist, nimmt sie bei Ari die Herausforderung an.

Haben Sie Wien schon bei Nacht gesehen?

Was die Leser*innen über Ari erfahren ist wenig, und auch Katharina hat ihre liebe Not, den neuen Stammgast einzuschätzen. Sie weiß jedenfalls nicht, dass Ari ein besonderes Talent hat, vor dem er weggelaufen ist; dass er zuhause jemand Vertrauten zurückgelassen hat, ahnt sie anfangs auch nicht, und schon gar nicht, dass Ari schwerwiegende Einschlafschwierigkeiten hat, weshalb er nachtnächtlich ein zweites Mal am Lokal vorbeispaziert und Katharina durch die Fensterscheiben beim Aufräumen beobachtet. Der Nachtwanderer ist zur Zeit heimatlos, nur vorübergehend in der Stadt eingenistet, auf der Flucht? Wie passend, dass er einmal parallel dazu nach Joyce’s Ulysses greift (und ihn bald wieder weglegt). Katharina dagegen hat einen Ort, scheint aber zutiefst unglücklich, der Ort ist noch besetzt und sie im Moment einfach nicht im Moment: „‚Wer ist schon präsent im Moment?‘, sagte sie achselzuckend. ‚Außer Buddha vielleicht. Oder Roger Willemsen.'“ Doch früher einmal, findet Ari nach und nach heraus, früher gab es jemanden, mit dem war Katharina ausschließlich im Hier und Jetzt. Dieser Jemand namens David ist heute nicht mehr hier, der Roman springt immer wieder unvermittelt zu kursiv gehaltenen Schlüsselmomenten von Katharina und ihm, etwa wie sie das Lokal gemeinsam eröffnen, die charakteristische Ruin-Couch anschaffen, oder an ihrem Lieblingsplatz mit Blick über Wien über Ulysses reden. „Nostalgie interessierte sie nicht, denn sie waren sich nur Gegenwart. Das war die Natur ihrer Geschichte.“ Zwischen Ari und Katharina entspinnt sich so etwas wie eine unausgesprochene Vereinbarung: Keiner fragt genauer nach, doch man ist füreinander da – gemeinsam sind die beiden immer zur richtigen Zeit am richtigen Ort, treffen einander zufällig, im Kino, im Schwimmbad, im Park, auf der Straße. Wien ist unwiderstehlicher Schauplatz für traurig-nostalgische Glücksmomente, wahre Wien-Kenner*innen freuen sich über den Wiedererkennungswert (im Zehnten Bezirk am Reumannplatz, im Böhmischen Prater) und hätten vielleicht zu beanstanden, dass die Straßenbahnlinie 6 seit gut einem Jahr nicht mehr zum Zentralfriedhof fährt.

Alles ist ein Zitat

Einmal sagt Ari zu Katharina: „Schau mich nicht in diesem Tonfall an“. Der Tonfall, mit dem Kadletz ihre Leser*innen anschaut, ist ihrerseits im besten Sinne salopp, es ist ein Stil, bei dem sich vielleicht nicht die ganze Welt, aber doch zumindest eine bestimmte Wiener Szene zwischen den Zeilen befindet. Kadletz ist genaue Beobachterin der Szenerie und der Charaktere, bringt dabei eine große Portion Sentimentalität mit ins Spiel. Mit viel Liebe und Verständnis betrachtet sie Ari, Katharina, am Ende auch Sabina und Max – man fühlt mit ihnen die Jahreszeiten, schaut wehmütig dem Sommer hinterher, teilt ihren spielerisch deskriptiven Blick auf die Welt. So zum Beispiel auch die Überzeugung, dass alles immer ein Zitat ist: Katharina flüstert, wenn Ari auf dem Sofa im „Ruin“ beinahe mit einer Zigarette in der Hand einschläft: „Gib die Zigarette her, Ingeborg“, und verweist absichtsvoll im schläfrigen Taumel auf Ingeborg Bachmann. Neben literarischen Zitaten finden sich natürlich, ganz dem Stil des „Ruins“ gemäß, auch jede Menge musikalische. Lauscht man dem Buch, findet sich neben „Bilderbuch“ auch „PJ Harvey“, oder eine Hommage an die „Smashing Pumpkins“ – fast als gäbe es einen eigenen Soundtrack zum Roman. Die Atmosphäre, die dadurch entsteht, lässt das „Ruin“ vor dem inneren Auge reale Formen annehmen, die gemütliche Nische, die überquellenden Bücherregale, das zerknautschte Sofa, die leichte Trauer, die in der Luft liegt, vermischt mit einem Hauch Todessehnsucht („Ihr Wienerinnen mit eurer Todessehnsucht“, Zitat Ari), die Geheimnisse an den Tischen, die leise Musik dazwischen.
Wer nun auch Lust bekommen hat, dem „Ruin“ einen Besuch abzustatten: Es ist eigentlich ganz einfach. Sobald man sich trotz des Titels überwunden hat, das Buch in die Hand zu nehmen, muss man den Roman von Barbara Kadletz nur mehr aufschlagen und zu lesen beginnen.

Barbara Kadletz Im Ruin
Roman.
Wien: Edition Atelier, 2021.
224 S.; geb.
ISBN 978-3-99065-048-6.

Rezension vom 22.02.2021

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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