Die Erwartungen an ein Buch mit dem Titel Im Puls der Nacht. Sub- und Populärkultur in Wien 1955-1976 sind hochgespannt angesichts der Umwertung romantischer Konzeptionen des Nachtlebens als Topos der Rebellion und der Gegenmacht. Nicht dass die Nacht nicht weiterhin als Schauplatz des gesellschaftlich Verfemten funktionieren würde. Doch, so argumentieren Peter Stallybrass und Allon White, die Aktivitäten und Ideen der „Menschen der Nacht“ sind eingespannt in einen komplexen Zusammenhang mit jenen Prozeduren, in denen eine Gesellschaft sich ein notwendiges „Außen“ schafft – ein Anderssein, gegen das sich dominante Regeln und Normen etablieren lassen. Wie also kommunizierten „Gesellschaft“ und Gegenkultur, Garantierte und Nicht-Integrierte (um eine weniger verbrauchte Begrifflichkeit der 70er-Jahre zu strapazieren) in Wien? Wie gestaltete sich das Verhältnis zwischen den verschiedenen Linien der künstlerischen Avantgarden, den opponierenden Stil-Gemeinschaften, der Bohéme und – allenfalls – dem nächtlichen Strandgut der Marktfahrer, Prostituierten und Alkoholiker? Wo fanden sich die Orte des pulsierenden Gegenlebens (wenn es denn eines gab)?
Heinrich Deisls Buch kommt uns stellenweise wie ein Reader’s Digest zur Vor- und Nachkriegsgeschichte der populären Musik und ihrer Nachbarschaften in Wien entgegen. Entlegene Traditionen werden in unvermuteten Zusammenhang gebracht, einzigartige Figuren und scheinbar monolithische Werke auf eine überraschende Familienähnlichkeit hin präsentiert, veränderliche Medienpraktiken und langlebige Wiener Stadtmythen kombiniert, um eine kohärente Geschichte herzustellen. Diese Geschichte ist aber wiederum nur der Vorlauf auf den zu erwartenden Folgeband, der sich mit der Transformation einer heterogenen populärmusikalischen Landschaft zu deklinierbaren und transnational korrelierbaren Stilen (einschließlich deren räumliche Konfigurationen) befassen wird.
Zurück bis zu Franz Lehár (Die lustige Witwe) und vor bis zu Peter Weibel (Hotel Morphila Orchester), dazwischen Helmut Qualtinger (Bundesbahnblues), Anton Karas (Third Man-Soundtrack), Konrad Bayer, Otto Mühl und viele viele andere – sie konstituieren das Wiener Pop-Universum in statu nascendi. (Frauen – doch das ist nicht dem Buchautor anzulasten – sind Pop-Raritäten.) Zumindest bietet die eine oder andere Künstler-Monografie solche Abjekte an. Erst das „coole Wissen“ des Pop-Autors allerdings, das einleitend skizziert wird, kann diese Randnotizen bündeln um striktere Verbindungen herzustellen. Helmut Qualtinger und Falco etwa, intrinsisch verknüpft durch die Kombinatorik deutscher und englischer Wortblöcke; oder Blut&Sperma des Wiener Aktionismus im Widerschein der Ekel-Parodien von Drahdiwaberl; Max Brands frühe Synthie-Experimente und die Wiener Elektroniker; der strukturale Film Peter Kubelkas und die VJ’s der Gegenwart … Wie ein breiter Strom münden diese Beiträge in das magische Jahr 1976, in dem mit der „ARENA“ sich auch in Wien eine Pop-Formation herausbilden wird, deren Analyse für den kommenden zweiten Band zu erwarten ist.
Methodisch lehnt sich Im Puls der Nacht an Greil Marcus‘ Lipstick Traces an. Doch anders als Marcus‘ Orientierung an künstlerischen Verfahren, die Dada mit Punk labyrinthisch verbinden, vertraut Deisl mehr den manifesten Interferenzen der Akteure: Wegkreuzungen (Clubs, Art-Houses, Radiosendungen), an denen die verstreute Literatur zur jüngeren österreichischen Kunst- und Kulturgeschichte das Phantom eine übergreifenden Subkultur aufleuchten lässt. Dass sich diese Indizes tatsächlich zu einer Genealogie lokaler Populärkultur bündeln lassen ist jedoch nicht restlos überzeugend dargestellt – auch nicht durch die Anlehnung an die zwischenzeitlich hegemoniale These, alles nach 1945 ereigne sich im Schatten des nationalsozialistischen Terrors und der „Lebenslüge“ der Zweiten Republik. Zurück in die Einzeldisziplinen wird sich gut begründeter Widerspruch gegen die ans Teleologische streifende Zugriffsweise des Autors einstellen. Es wird an den Spott und Hohn erinnert werden, mit dem sich die Wiener Gruppe den Pop-Allüren der aufkommenden Jugendbewegung entgegengestellt hat, am Festhalten der „ersten Generation“ experimenteller Filmemacher am Kunstwerksgedanken, an das homerische Lachen der Größen in „Fatty’s Saloon“ wenn die „Masters of Unorthodox Jazz“ spielten. Das nimmt Heinrich Deisls Buch nichts von den einzelnen luziden Vorschlägen, welche Reminiszenzen im Wiener Punk oder Techno ausgemacht werden können. Und doch erwartet man sich vom ausstehenden Folgeband mehr Konzentration auf die Brüche, die tektonischen Verschiebungen, die rivalisierenden Subsysteme in denen populäre Kultur Identitätsangebote macht.