#Prosa

Im Fluss

Günther Kaip

// Rezension von Günter Vallaster

Günther Kaip gehört zu den Autoren mit dem ganz feinen Anschlag auf der Klaviatur der Sprache und seine Texte beeindrucken nicht zuletzt durch den speziellen Swing und Groove, der in der Schwebe zwischen Prosa und Lyrik entsteht. Im Fluss ist ein bestes Beispiel dafür und der Titel unterläuft, ja unterspült die darin versammelten hochkonzentrierten Prosa-Dosen ganz programmatisch: In einer mitreißenden Sprache wird ein weitgehender Stillstand eingefangen, in dem jede Bewegung umso mehr auffällt und Aufmerksamkeit erhält. Es ist ein Stillstand auf dem Land, irgendwo in Kikeritzpatschen, der in komprimierten, dichten, von kaum mehr als hundert Wort-Seelen bewohnten Text-Miniaturen vorgeführt wird, mitsamt seinem ganzen nicht mehr ganzen Leben, der Vereinsamung, Entfremdung, Entmenschlichung und Entpersönlichung da draußen, in outer space. Inklusive der Schrecken, die in manchen Fugen und Ritzen stecken.

Dabei bedient sich der Autor eines geschickten Kunstgriffes, der in allen Sätzen des Bandes pulst, nämlich der Personifikation. Sie bringt einerseits eine Menschenleere und ein aufgrund von Reizmangel u.U. sogar halluzinogenes Landleben sehr lebendig zum Ausdruck, andererseits lässt sie die wenigen als Menschen greifbaren Akteure umso plastischer in Erscheinung treten: Alles Mögliche tritt mit menschlichen Zügen auf, die Moose, die Kilometersteine, der Glaube, die Fische, die Klage, die Depression – die gesamte Umwelt und häufig die Zeit. Durch diese Projektionen gelingen Kaip wunderschöne Sätze wie: „Gerade stapft mein Vermieter durch die Wohnung. Einfach so, lagert Schlamm und Schnee auf den Teppichen ab. Schüttelt den Kopf. Dann geht er wieder, wortlos, wie es so seine Art ist“ (S. 75) oder: „Das Glück aber wankt aus dem Tal, in einem blauen Anzug, mit Gräsern im Haar“ (S. 35).

Umgekehrt und vexierbildhaft wird die Welt aber auch in die Figuren eingezeichnet, sie hinterlässt ihre Spuren und Furchen und deckt sie im Extremfall auch zu, „Furche um Furche, (…) während der Bauer zwischen zwei Furchen liegt und schläft, träumt, dass der Pflug auch ihn furcht“ (S. 83). Die Personifikationen steigern sich manchmal zu Ausstülpungen des menschlichen Mikrokosmos zum gesamten Universum: „Die Sterne sind Knöpfe im Samt der Nacht, …“ (S. 33). Oft wird ein auffallender Aspekt metonymisch zur ganzen Figur erhoben: „…taub für die höhnischen Abschiedsrufe des Diebstahls, der sich aus dem Staub macht“ (S. 72), mit Sammelbezeichnungen wird die Vereinzelung, aber auch die Ich- und Wir-Bezogenheit auf besonders beklemmende Weise wiedergegeben: „Fallweise hängt der Ort schon morgens am Baum vor dem Fenster“ (S. 6). „Ich fresse Gärten für mein Leben gern“ (S. 59). Durch dieses kaleidoskopische Spiel mit der Multiperspektivität geraten die Sätze zu präzisen Höhenlinien einer vielschichtigen mentalen Landkarte.

In etlichen Passagen kann diese Prosa durchaus das Etikett „realistische Literatur“ tragen, aber nur als Folie und Ausgangsbasis: Der konventionelle Realismus trifft auf einen kalkulierten Einsatz der Mehrdeutigkeit der Sprache und eine bewusste Berücksichtigung der Komplexität der Wahrnehmung, was die Sätze ständig in viele Ebenen kippen lässt: „In einer Seitenstraße beginnt ein tanzender Kanaldeckel zu singen“ (S. 82). Da geht es vom Realen ins Traumhafte, Surreale und Skurrile, auf schräg-spannende Weise wird es also an allen Ecken und Enden, um an dieser Stelle ein Wort von Walter Pilar zu entlehnen: „skurreal“: „Derweilen tanzen die Punkte auf dem Wasser mit den Sonnenstrahlen“ (S. 63).

Vor allem aber fügen sich die Wörter und Sätze zu Bildern zusammen, was noch einmal einen besonderen Reiz an Kaips Miniaturen begründet. Dem Autor kann förmlich beim Zeichnen zugeschaut werden: „Die Sonne rollt gemächlich hinter den Hügel, der Mond verschiebt seine Stablampe.“ (S. 10). Die Art der Verbildlichung ist dabei überaus variantenreich: Mal wie eine Kohlezeichnung („Einige Bäume treten aus dem Dunkel des Waldes und zeichnen Figuren in den Wind“, S. 10), mal wie ein Gemälde des phantastischen Realismus („Mitten am Tage blühen die Sterne auf…“, S. 113) oder des Symbolismus („Die weißen Taufkleider wickeln sich um die Baumstämme im Park“, S. 27) oder des Surrealismus („Drei Kinder holen ihre drei Drachen ein, von den Fußgängern steht jeder auf einem Stein und blickt ins Land…“, S. 52) oder wie Concept Art („Zwei Auslassungen rollen vom Tisch und zerschellen auf dem Bretterboden“, S. 20). Dann wieder wie eine Szene aus einem Kinderbuch á la „Alice im Wunderland“ oder „Wizard of Oz“ („Dazu müssen sie ins Beet mit herzförmigen Blumen steigen…“, S. 43) oder wie aus einem Spaghetti-Western Marke „Spiel mir das Lied vom Tod“ („In der Ferne hören wir das Pfeifen eines Zuges, unseres Zuges, auf den wir warten“, S. 67). Diese Miniaturen sind Idyllen, im ursprünglichen konkreten Wortsinn, also „Bildchen“, aber solche, die angenehm aus dem Rahmen fallen. Einige wirken wie Votivbilder, wobei das Allegorische immer ins Ironische oder Drastische gebrochen wird, was zu eingehenden und scharfsinnigen Gesellschaftsanalysen führt, von geradezu seherischer Qualität (siehe Leseprobe).

Auch das Mindesttextinventar eines Bücherregals landauf, landab, bestehend aus Kochrezepten, Aphorismen, Tagebuch, Märchen, Zaubersprüchen und Bibel spiegelt sich in den Schilderungen der Dorfzustände im Einweckglas: „Alles wird sich von selbst erledigen. Das stellt erleichtert der im Alter von 30 Jahren zum vierten Mal Verstorbene fest, der noch immer als gestorben gilt“ (S. 98). Die wenigen Bewegungen, die vollführt werden können, sind vor allem solche des versuchten Weggehens und Verlassens – Aufbruch wäre schon zu viel gesagt. Zur Flucht reicht es nicht ganz und wohin sollte sie auch erfolgen: „Er steht auf, steigt aus dem Boot und geht über den See“ (S. 97). Die Stadt erscheint ausführlicher gegen Mitte des Buches und als Thema, aber immer noch fernes Zitat erst auf S. 88 und schließlich im Epilog, dort zunächst als Ort der „Entspannung“ (S. 122), von dem aus dann aber wieder Ausbruchsversuche gestartet werden.

An einigen wenigen Stellen gleitet der Textfluss allerdings dann doch ein bisschen zu sehr ins Pathetische ohne erkennbare textgestalterische Begründung, wenn es beispielsweise heißt: „Die Tränen sind verrührtes Licht auf den Wangen“ (S. 28) – das geht bei Filmen oder in der Musik eher noch durch, weil es dort eben die Bilder und Klänge gibt, die die Sprache bisweilen in den Hintergrund treten lassen. In der Literatur muss sich die Sprache jedoch selbst tragen. Eine Änderung der Überschrift von „Tränen“ in Richtung „Schlagerradio“ oder „Tränen lügen nicht“ wäre für diese Miniatur ein Rettungsanker gewesen. Insgesamt ist Im Fluss aber ein ganz großartiges Buch, das dazu einlädt, seinen Läufen und Spuren zu folgen – „und da öffnet sich eine schmale Lichtung. Direkt vor uns“ (S. 15).

Günther Kaip Im Fluss
Miniaturen.
Wien: Klever, 2008.
128 S.; brosch.
ISBN 978-3-902665-03-4.

Rezension vom 17.11.2008

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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