#Prosa

Im Fahrtwind

Günther Kaip

// Rezension von Walter Wagner

Ein Meister der gnomischen Form legt dem Publikum eine neuerliche Probe seines Könnens vor. Diese mit dem Untertitel Miniaturen versehene jüngste Sammlung von Prosagedichten überrascht den uneingeweihten und also mit der Kaip’schen Kurzprosa nicht vertrauten Leser schon im allerersten Stück, das vielsprechend ankündigt: „Heute erträumen sich die Jahre klarer ihr Leben.“ Wer so anhebt, weckt Neugier, regt zur Suche nach einer Geschichte an, die allerdings nie beginnt. So verführerisch die vom Autor erdachten Bilder wirken mögen, sie münden weder in eine Geschichte noch in eine verbindliche Aussage. Ein Erzähler mag zwar da und dort kurz auftauchen, entpuppt sich indes schnell als Floskel, die keine Perspektive im herkömmlichen Sinn eröffnet.

Kaips surreale Sprachwucherungen bieten stattdessen irrationale Kausalverknüpfungen und fantastische Ausritte in eine Prosadichtung, die der gewohnten Bodenhaftung entbehrt. Da will nichts erzählt, nichts mitgeteilt und allenfalls einiges angedeutet werden. „Die Nacht gegessen, den Tag in Streifen geschnitten“, heißt es, und es heißt nichts weiter, als dass die referentielle Funktion dieser Texte sabotiert wird. Es ist ein wildes, nachgerade vormodernes Denken und Fantasieren, das Im Fahrtwind begründet und zusammenhält. Der „Scherbenhaufen“ der Wörter, der irgendwo im Band anklingt, offenbart unversehens Kaips Poetik der Geschichtenverweigerung.

Zwischen aufgespießten Thesen und Wodka trinkenden Austern bleibt viel Raum für Tag und Nacht, allerlei Wetterereignisse und den programmatischen Fahrtwind, der dem nasgeführten Leser allenthalben um die Ohren weht. Wohin geht die Reise? fragt man sich. Über Wald und Wiesen, die nicht duften noch blühen, sondern als ausgehöhlte, entkernte Signifikanten ihr sinn-loses Dasein verträumen.

Bisweilen bricht Gewalt in das kreative Vexierbild ein, deutet sich ahnungsvoll eine Welt an, die Müllplatz werden soll, die kreischt und gelegentlich ein Blutbad anrichtet, wenn sie nicht gerade einen originellen Gottesbeweis antritt. Aber es ist einerlei, wohin die Reise geht, weil die Wahl beliebig ist und keine Destination in Wahrheit erreicht wird.

Unverbindlich flüchtet die Sprache in die reinste Poesie, lässt Ballons steigen und wie Seifenblasen zerplatzen. Kaips Prosastücke sind jenseits der Erklärung, aber auch jenseits der Belehrung, der Tröstung und Zerstreuung angesiedelt. Sie sind grausam absurd wie unsere postindustrielle Oberflächenexistenz, ständig changierend, unheimlich, unangreifbar und von daher aufs Erschreckendste aktuell.

Keine Instanz nimmt den Leser bei der Hand und geleitet ihn durch die labyrinthisch anmutenden Erregungen, wenn es denn solche sind. Aber „der Weg folgt ihrem Fuß“, und so manch einer mag denken: „Wo bleibt da der Anstand!“ Da beginnt auch schon das nächste Stück und wieder eines, schnell, maßlos, überhitzt.

Wie soll man an diese ‚Geschichten‘, die keinesfalls nach dieser Bezeichnung heischen, herangehen, wie sie lesen? Vielleicht sollte man sie nur hören, nur dem Raunen eines erprobten Vorlesers lauschen und langsam in Trance versinken. Dieses Buch fordert nämlich alles und nichts zugleich, zu viel und zu wenig. Scannen wir Zeile für Zeile mit den „Augen, die erst vor einem Monat ausgewechselt wurden“, wie behauptet wird, ein. Tasten wir uns über die ästhetische Textur dieser Miniaturen und lassen wir uns von ihren poetischen Bocksprüngen nicht abschrecken. Oder nehmen wir diese Publikation wie ein Brevier zur Hand, welches das Zeug hat, die Welt in jedem Augenblick neu zu erschaffen. Derlei Optimismus tut not, ja darf getrost als Medizin gegen schlechte Laune verschrieben werden.

Günther Kaip Im Fahrtwind
Miniaturen.
Wien: Klever, 2010.
128 S.; geb.
ISBN 978-3-902665-15-7.

Rezension vom 22.03.2010

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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