#Roman

Im Atlas

Andreas Jungwirth

// Rezension von Florian Dietmaier

„Richard, why did we come here?“, fragt Susan, gespielt von Cate Blanchett, im Film Babel. „To forget everything, to be alone.“, antwortet ihr Mann, gespielt von Brad Pitt. Vergessen will Richard den Tod der kleinen Tochter, für den er Susan verantwortlich macht. Allein sein will er, um Susan mit seinem Schweigen zu quälen. Denn sie weiß, dass er ihr die Schuld gibt. Er muss es nicht mehr aussprechen, sie muss es nicht mehr hören.
Babel wurde unter anderen im marokkanischen Ouarzazate am Fuß des Atlasgebirges gedreht. Die Filmstudios dieser Stadt sind eines der Ziele des Bühnenbildners David und seines Partners Stefan in Andreas Jungwirths neuem Roman Im Atlas. Allein die Vorstellung, dass die Stars von Babel „auch hier, an diesem Ort, gewesen sein könnten“, ist Grund genug für diesen Urlaub. Oder?

Acht Tage will sich das Paar in Marokko Zeit nehmen und von Marrakesch aus „in die Wüste“ vordringen. Das sei „zwar total touristisch“, wie Stefans Arbeitskollegin Susanne meint, „aber die unkomplizierteste Art, den Himmel über der Wüste zu sehen“, spielt Stefan auf den gleichnamigen Roman und Film an, der wie Babel ebenfalls vor Ort gedreht wurde.

Warum genau sie nach Marokko gekommen sind, ist beiden aber nicht wirklich klar. Ungefähr in der Mitte des Romans, in der Wüste angekommen, den Himmel über ihnen, die Sterne betrachtend, variiert Stefan die Frage von Brad Pitts Charakter: „Warum sind wir hier, in der Wüste, warum sitzen wir hier im Sand?“ Zwischen David und Stefan gibt es zwar keine so schwerwiegenden Vorwürfe wie in Babel, doch geht es auch in Jungwirths Roman vor allem um Beziehungs- und Kommunikationsprobleme. Und David, dem der personale Erzähler auch in die Gedanken folgt, erkennt dies bereits am Tag vor dem Abflug. An diesem Tag geht ein Video von der Ermordung zweier Däninnen im Touristenort Imhil durch die Medien. Als Stefan nach Hause kommt, überlegt David: „Wenn Stefan von den Morden erfahren hat, steht jetzt alles auf dem Spiel – mehr als nur diese Reise.“ Seit einem Jahr sind Stefan und er nämlich ein Paar. Das macht David nervös, denn immer schon hatte er „sich nach einem Mann gesehnt, mit dem er das ganze Leben verbringen konnte. Aber nichts hatte viel länger gehalten als ein Jahr, maxi-mal eineinhalb Jahre. Im besten Fall hatte es im Schweigen geendet. Viel öfter aber im Streit.“ Wie wird es diesmal enden, scheint er sich zu fragen, in Streit oder Schweigen?
Stefan hat jedenfalls vom Doppelmord erfahren und fragt: „Warum in ein Land fahren, wo so was passiert?“ Im Gegensatz zu Richard und Susan sprechen David und Stefan noch über ihre Probleme. „Lass uns zusammen entscheiden“, schlägt Stefan vor. David, der sich von den Bildern auf seltsame Weise angezogen fühlt, schmeichelt ihm damit, dass nichts schief gehen könne, weil ja Stefan die Reise geplant habe. Der gibt genervt sein Okay: „Warum sind wir nicht in der Lage, so eine Entscheidung in Ruhe zu treffen?“

Auch an ihrem ersten Abend in Marrakesch kommt es beinahe zum Streit. Als David nach Informationen über die Ermordeten sucht, lädt Stefan ihn in ein Restaurant namens Nomad ein. Er habe es des Namens wegen gewählt, zieht er David auf: Der sei doch ein Nomade, und „immer von einem Mann zum anderen gezogen“. David geht nicht darauf ein; Stefan kennt nicht den ganzen Umfang seines Nomadentums.
Als das Essen kommt, enthüllt Stefan, dass er nächstes Jahr nach Norwegen versetzt werden könnte. David freut sich für seinen Partner und will ihn auch in das neue Land begleiten, doch „wie am Abend vor ihrer Abreise war es auch jetzt für ein paar unsichere Sekunden so zwischen ihnen, als stünde plötzlich alles, was zwischen ihnen war, auf dem Spiel, als könnte in diesem Moment etwas für immer zerbrechen.“ Er fragt sich, ob ihre Beziehung diesen Umzug überleben wird und dann eröffnet ihm Stefan auch noch, dass es frühestens in einem Jahr soweit sein wird. Ihre Beziehung würde dann zwei Jahre dauern, ein halbes über den eineinhalb Jahren also, die Davids Beziehungen sonst maximal dauern. Und wieder: Streit oder Schweigen?

Stefan bemerkt, dass David etwas beschäftigt. Dieser möchte eigentlich über die beiden toten Däninnen sprechen, um (sich) von seinen Zweifeln abzulenken. „Aber er würde möglicherweise bloß erneut eine Diskussion über die Gefahren ihrer Reise vom Zaun brechen.“ Statt über die Toten und seine Zweifel spricht er deshalb über das Stück eines jungen Autors, in dem es keine Figuren und keine Dialoge gibt, und an dem er und der Regisseur Xaver, sein jahrzehntelanger künstlerischer Partner, gerade arbeiten und das an ästhetischen Kommunikationsproblemen zu scheitern droht. Denn es sind nur noch drei Monate bis zur Premiere und David hat all seine bisherigen Bühnenbildentwürfe verworfen. Er kann mit dem Text nichts anfangen: „Eine Textfläche. David hatte ziellos herumgesucht, so wie es der Text, Davids Meinung nach, auch tat.“ Wie kann er den Text auf die Bühne bringen, mit seinem Bühnenbild kommunizieren, was der junge Autor sagen will? In Marokko stellt David sich an verschiedenen Orten vor, diese als Vorlage für die Gestaltung der Bühne zu verwenden. Am Weg zum Wüstencamp mit ihrem Fahrer Kalifa erreichen sie etwa eine schüttere Graslandschaft, durchsetzt mit Felsen, die David an Planet der Affen erinnert: „Das Licht geht an. Auf der Bühne liegen Steine. Die Schauspieler tragen Affenmasken. Sie sprechen die Worte des jungen gehypten Autors.“
David hofft, dass eine dieser Eingebungen ihm den Text erschließen wird, denn Xaver und ihm hatte schon öfter in ihrer gemeinsamen Karriere die „Idee für das Bühnenbild, den Raum, in dem die Schauspielerinnen und Schauspieler agieren würden, […] ein Stück erschlossen, mit dem sie sich anfangs schwergetan hatten.“ Die Motivsuche in Marokko gestaltet sich aber schwierig.

Und hier verbindet sich Davids Theaterarbeit mit seinem und Stefans gemeinsamen Leben. Im muslimischen Land Marokko müssen sie nämlich auch Schauspieler werden. Und wie sich David und Xaver sperrige Stücke erschlossen haben, wenn sie eine Idee vom Raum hatten, erschließt sich für David in Marokko auch über die Rollen, die sie spielen, seine Beziehung zu Stefan. Spielen sie oder ist es ernst?
Bevor sie ihren Fahrer treffen, schlägt Stefan vor, sich als Cousins auszugeben. David will, dass sie Brüder spielen. Kalifa können sie aber nichts vormachen. Der Fahrer ist zu ihrem Glück nicht homophob und dennoch ärgert sich Stefan, als Kalifa ihre Geschichte als Lüge erkennt. Denn vor der Reise erklärt Stefan: „Eine Lüge, über die beide Parteien nicht sprechen, […] gerade weil alle wissen, dass es eine Lüge ist, schafft Abstand und Verbundenheit gleichermaßen.“ David stimmt wenig begeistert zu.
Und im Wüstencamp, kurz bevor Stefan fragt, warum sie hier sind, glaubt David, Stefans Erzähltechnik durchschaut zu haben. „Seine Geschichten bestanden aus wahren Elementen, die er zu etwas völlig Neuem zusammensetzte.“ Stefan hat gerade Vera, einer deutschen Touristin, eine weitere Lügengeschichte über sich und David erzählt und erklärt seinem verdutzten Partner, dass er wissen wollte, „ob es funktioniert“, nachdem er bei Kalifa gescheitert sei.
David beantwortet Stefans Frage nach dem Warum der Reise nicht, sondern lenkt das Gespräch wieder auf die toten Däninnen. Weiß er keine Antwort, oder will er keine Lügengeschichte erzählen müssen? Stefan fragt, warum David sich das Video angesehen hat. Der meint, er habe es nicht ignorieren können. Stefan darauf, er möge den Mut von Künstlern, „möglichst lange im Ungefähren zu bleiben, sich möglichst lange nicht festzulegen.“ David versteht nicht, wie das zu seiner Antwort passt, da fügt Stefan an: „Manchmal habe ich das Gefühl, du hast dich immer noch nicht für uns entschieden.“ David ist perplex und nicht in der Lage, das Naheliegende zu fragen: „Warum hast du den Eindruck?“ Ist sich nicht entscheiden (können) gleich einer Lügengeschichte, gleich einem Schweigen?

Wie es in diesem Dialog, diesem Roman weiter geht, soll nicht verraten werden. Nur so viel: Die Dialoge, die Jungwirth für seine Figuren schreibt, bleiben der Antrieb für die an Wendungen reiche Handlung. Deshalb sind sie wohl auch nicht mit Anführungszeichen markiert: Sie SIND der Text. Ein spannender Text über eine Beziehung, der man als Leser/in das Gelingen wünscht.

Andreas Jungwirth Im Atlas
Roman.
Wien: Edition Atelier, 2022.
296 S.; geb.
ISBN 978-3-99065-067-7.

Rezension vom 28.02.2022

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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