#Roman

Ich zähle jetzt bis 3 und dann ist Frieden

Egon Christian Leitner

// Rezension von Ilse Kilic

Sozialstaatsroman letzter Teil.

Es ist nicht leicht, auf der Welt zu sein. Es könnte aber leichter sein, zum Beispiel, in dem der Zustand der Welt sich ändert. Ich korrigiere: Indem wir den Zustand der Welt ändern. Damit beginnen, den Zustand der Welt zu ändern. Dies hatte sich zum Beispiel das Sozialstaatsvolksbegehren im Jahre 2002 vorgenommen. Darauf nimmt der Untertitel „Sozialstaatsroman“ Bezug, im aktuellen sowie in den drei vorangegangenen Teilen des Werkes von Egon Christian Leitner, die unter dem Titel „Des Menschen Herz“ erschienen sind. Ich muss nachlesen, kann mich nur erinnern, dass ich das Volksbegehren damals unterschrieben habe, ich lese nach, lese die Parlamentsdebatte, lese Medienberichte und kann mich sofort der Forderung von Egon Christian Leitner anschließen, dass es dringend zu einem weiteren Sozialstaatsvolksbegehren kommen sollte, besser gesagt müsste. Bald. Genau genommen gleich. Mit den Worten des Autors:
„Sozialstaatsvolksbegehren wiederholen! Höchste Eisenbahn!“ (Seite 27, Interview für kulturMontag, ORF)
„Der Sozialstaat ist auch dafür da, dass es zu bestimmten Notsituationen gar nicht erst kommt.“ (Seite 103)

Der vorliegende vierte und letzte Teil des „Sozialstaatsromanes“ ist aber viel mehr als gesellschaftspolitisches Argument, er ist eine Verbindung von individueller Lebenspraxis mit politischen Klarheiten. Mehr noch: Er ist ein Aufruf, individuelles Glück als politische Größe zu sehen. Eine literarische Studie zu Empathie und zu sozialer Gerechtigkeit. Die Vielfalt der Themen, die in „Ich zähle jetzt bis 3“ Platz finden und die Vielzahl der auftretenden Personen lässt mich an eine Art Seismographie der Wirklichkeiten denken, vielleicht auch eine Seismographie der gefühlten Wirklichkeiten, wobei ich an den Schriftsteller und Filmemacher Alexander Kluge erinnere, seinerseits ein Meister der Seismographie und der dicken Bücher, die nicht zwingend in der Reihenfolge der Seitennummerierungen gelesen werden müssen und die gewissermaßen den schönen und erkenntnisreichen Prozess der Beobachtung und deren Beteiligung an der Verbindung von Praxis und Theorie zum Thema haben.

Natürlich gibt es viele verschiedene Möglichkeiten, dieses Buch zu lesen, etwa von Seite 5 bis Seite 1044, also vom Impressum bis zur Biografie des Autors auf der letzten Seite. Diesen Weg habe ich nicht gewählt. Ich habe auch nicht im Pataphysischen Register die Themen ausgesucht und mich auf die angegebenen Seiten begeben. Ohja. Habe ich. Einmal. Beim Thema Blutdruck. Und bin erschrocken, geht es doch hier um eine Krankheitserfahrung des Autors selbst, also um Spital, um Reha, um die Wichtigkeit des Lachens, um das langsam klopfende Herz (Ruhepuls!), um das Leben im Falschen, um – natürlich – Corona, um die Coronargefäße und darum, am Leben zu sein.
„Das Sozialstaatsvolksbegehren endlich widerholen & sobalds irgend geht, spielen wir jetzt einmal Tischtennis miteinander. Bitte!“ (Seite 162)
Im großen und ganzen habe ich jedenfalls in wilden Bock- und Rösselsprüngen in alle Richtungen längs und quergelesen, auf den Zufall vertrauend und stets einen Markierstift zur Hand, auf dass ich nichts Wichtiges vergesse.

Den Hauptteil des Buches machen die Tagebücher aus, nach Jahren geordnet, aber innerhalb der Jahre nicht genauer datiert, eingeleitet immer mit den Worten „Tag, Monat, Jahr“. Das ist wichtig. Tag, Monat, Jahr sind die Koordinaten, die genannt, aber nicht zur Gänze festgeschrieben werden, was den Einträgen gewissermaßen eine über den Tag und den (möglichen) Anlass hinausweisende Gültigkeit ermöglicht, auch und besonders dann, wenn sie etwa nur einzelne Zeilen, Worte beinhalten.

Zum Beispiel:
Tag, Monat, Jahr
Das eigene Sterbedatum kann man auf deathclock.com abrufen“
(Seite 174)

Die Tagebücher versammeln Wichtiges und Unwichtiges, wobei nicht ganz klar ist, nicht ganz klar werden soll, was wann in welche Kategorie fällt und: Warum eigentlich? Was ist wann wie wichtig? Und für wen?
Ist es wichtig, dass Grillparzer Rom nicht mochte? (Seite 794) Vielleicht ja.
Ist es wichtig, dass Sokrates gerne getanzt haben soll? (Seite 446) Vielleicht ja.

Vielleicht erfüllen die fragmentarischen, oft ganz kurzen Tagebucheintragungen aber auch genau diese Funktion, nämlich jene, auch das vermeintlich Unwichtige neu zu gewichten. Was bedeutet überhaupt „wichtig“ im Vergleich mit anderen „Meldungen zum Tag“? Von Frontex geht es also zu den Etruskern, zum etruskischen Wort frontac und dann weiter mit den Etruskern. Man könnte sagen: Es geht vom einen zum andern, so wie das Leben. Wie die Gedanken, die ja auch ständig vor sich selbst davonlaufen und dennoch immer zu sich selbst zurückkommen. Eben. Synaptische Verbindungen und das etruskische Wort frontac, das sich auf die Weissagung der Zukunft aus dem Aufblitzen elektrischer Entladungen bezieht.
Es ist gerade auch in diesem Zusammenhang von Bedeutung, dass der Autor selbst mit seinen Ängsten, in seinen Überlegungen, mit seinem Kummer und in seinen (Un)Gewissheiten stets präsent, also als Person gegenwärtig ist. Dass er seine Eindrücke und Erfahrungen, die Wortmeldungen von Freunden und Freundinnen, seine Lektüren und Erinnerungen niederschreibt und in einen gesellschaftspolitischen Zusammenhang stellt. Die Leserinnen und Leser dürfen sich ihren Reim drauf machen. Sie dürfen etwas überspringen, etwas falsch finden, widerspenstig lesen, sich Gedanken machen, die Lektüre unterbrechen, ja, vielleicht wollen sie selber ein Buch schreiben, ein Volksbegehren starten, eine Zeitschrift für die Menschlichkeit herausgeben (Textprobe), ein Institut für Weltverbesserung gründen oder im Institut für poetische Alltagsverbesserung mitarbeiten (IPA, gegründet von Lisa Spalt in Linz), eine Katze streicheln, einen Preis für den besten ungeschriebenen Roman gewinnen (Seite 184), einfach nett sein (Textprobe), Tischtennis spielen oder einfach das Leben aushalten, mit einem gewissen Frohsinn, wie Ilse Aichinger es einst proklamierte, als sie sagte, dieses frohsinnige Aushalten sei für sie ein großer, nein, der größte Lebenserfolg.

Eine besondere Freude war es mir, in diesem Buch Rolf Schwendter zu begegnen (Seite 583 und a.a.O.), dessen Stimme ich noch immer im Ohr habe, zum Beispiel, wenn er die Lieder zur Kindertrommel sang oder wenn er in Diskussionen das Wort „selbstredend“ verwendete. Schön auch, einer Textzeile von Patti Smith, die ich so sehr liebe, zu begegnen (Seite 769), ja: „Jesus ist für die Sünden der Menschen gestorben – aber nicht für meine“. Zur Definition von Sünde zieht Egon Christian Leitner übrigens Bertrand Russel heran, der, so Leitner, Sünde als das „Verursachen von unnötigem Leid und Elend definiert“, was Leitner allerdings nicht unkommentiert lässt (Seite 376).
Genau genommen weiß ich nicht, ob auf Seite 769 wirklich Patti Smith gemeint ist, vielleicht hat ja eine andere Sängerin diese Textzeile ebenfalls gesungen? Nicht namentlich genannt ist auch die Frau, der wegen einer Krebserkrankung die Gebärmutter entnommen und zu Forschungszwecken präpariert wurde (Seite 311). Handelt es sich hier um Henrietta Lacks? Die Bemerkung „Zum Wohle der Menschheit“ im entsprechenden Absatz könnte auf dieses düstere Kapitel Medizingeschichte hinweisen, aber wahrscheinlich war diese Vorgangsweise kein Einzelfall. Ich habe jedenfalls daraufhin über Henrietta Lacks nachgelesen. Es ist gut, wenn ein Buch dazu Anlass bietet, ein Thema gewissermaßen in Eigenregie weiterzuverfolgen oder sich Gedanken zu machen. Hilfreich zum Weiterlesen ist auch die Literaturliste, die über Leseempfehlungen weit hinausgeht und in der wohl jeder Leser, jede Leserin Bekanntes und Unbekanntes gleichermaßen finden wird. Ich wünsche mir und uns allen auch in diesem Sinne alle Zeit der Welt.
Jedenfalls: Leseempfehlung.
Und, Sozialstaatsvolksbegehren, ja, bitte.

Egon Christian Leitner Ich zähle jetzt bis 3 und dann ist Frieden
Roman.
Klagenfurt/Celovec: Wieser, 2021.
926 S.; geb.
ISBN 978-3-99029-486-4.

Rezension vom 06.09.2021

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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