Im Vorwort versucht der Autor einen ganz kurzen Abriss über die komplexen Stand der Forschung zum Thema Mythos, ohne sich dabei auf ein konkretes Modell oder einen klaren Begriff festzulegen. Im Vorwort wie in der Nachbemerkung betont er selbst, dass die „hier vorgestellten Themenkomplexe“ nicht repäsentativ sind, sondern „bewusst lediglich einen Querschnitt“ darstellen, bei dem es ihm um „möglichst differente Aspekte hinsichtlich der Mythenverwendung“ (S. 11., ähnlich S. 141) zu tun war. Das klingt ein wenig nach Notlösung, man sollte die Aufsätze von vornherein eher als eine lose Sammlung sehen denn als kohärente Auseinandersetzung mit dem vorgegebenen Überthema.
Es geht nicht um das, was im Alltagssprachgebrauch unter moderne (Großstadt)Mythen verstanden wird, und worauf der Titel verweist – die Identitätskonstruktion im Zeichen massenmedialer Selbstpräsentation – ist nur Thema im letzten Beitrag des Buches, der sich mit der „Imagebildung“ der Schauspiellegende Romy Schneider im Schatten ihrer Sissi-Rolle beschäftigt. Den Einstieg bildet der mit Abstand umfangreichste Aufsatz des Bandes, der einmal mehr den Habsburgischen Mythos bemüht, denn es sei „ein wesentliches Charakteristikum der österreichischen Literatur, jene versunkene Welt in ihren Texten zu thematisieren, da sich ihre Autoren seit jeher im Kontext ihrer eigenen Geschichte begreifen und das Spannungsverhältnis von Kunst und Staat stets ausreichen Stoff geboten hat. Diese Traditionslinie reicht von Johann Nestroy und Franz Grillparzer bis zu Thomas Bernhard und Eva Menasse.“ (13) Auch wenn diese „Traditionslinie“ etwas eigenwillig wirken mag, geht es hier nur um Joseph Roths späte Romane Radetzkymarsch und Kapuzinergruft, und dabei werden sehr schön die Grenzen dieser von Claudio Magris initiierten Sichtweise deutlich. Denn was als „Mythos“ gesetzt wird, ist mehr oder zumindest in gleicher Weise die Beschreibung eines gesellschaftlichen Modells. Dass Kaiser Franz Joseph und der alte Trotta einander ähnlich sehen, beschreibt symbolisch überhöht das dominante Männerbild am Ende der Monarchie. Das Modell des alternden Kaisers definierte die Erwartungshaltung an männliche Repräsentanten der Gesellschaft bis hinein ins Kinderzimmer. Die in der Literatur vielfach beschriebene Begegnung dieser Patriarchen-Väter mit ihren Kindern vollzog sich in kompletter Analogie zu den kaiserlichen Audienzen: einmal täglich wurden die Kinder von der Bonne zur väterlichen Besichtigung und kindlichen Ehrenbezeugung in den düsteren Arbeitszimmern der Väter vorgeführt. Wer in dieser Gesellschaft an relevanter Stelle mitspielen wollte, musste ein gewisses Alter haben oder zumindest vortäuschen. Man kann das sehr gut an den Autoren von Jung Wien nachverfolgen:So rasch sich diese Autorengeneration etablierte, so rasch scheint sie zu altern. Gleichsam über Nacht wuchsen die Bärtchen wie die Bäuchlein, die, wie klein auch immer, behäbig dem Objektiv entgegengereckt wurden; Spazierstöckchen pflegte man bald nicht mehr dandyhaft zu schwingen, sondern etwas schwerfällig als willkommene Stütze zu inszenieren.
Was der Blick auf die beiden Romane auch zeigt, ist die nicht Mythos-aufgeladene, sondern gesellschaftspraktische Funktion der Monarchie: Es war ausschließlich das Prinzip des kaiserlichen Regenten, das den Zusammenhalt des Reiches stiftete. Trottas Annäherung an seinen Vetter Bronka ist nicht eine „symbolhafte Bindung an die fernen Verwandten aus den Provinzen“ (S. 33), sondern ein Kommentar zum Nationalitätenproblem, so wie Joseph Roths Auseinandersetzung mit der Monarchie nicht ohne Reflexion seines Judentums verständlich wird. Symbolhaft für den Niedergang der Monarchie ist hingegen das Spiel mit der dreifachen Errettung des Kaisers durch die Trottas, deren „Dramatik“ und „Ernsthaftigkeit“ sich von mal zu mal ausdünnt und ins Lächerliche kippt, wenn der Enkel Carl Joseph das Bild des Kaisers aus dem Bordell rettet.
Von diesem Einstieg etwas abgesetzt sind die restlichen fünf Beiträge. Zwei beschäftigen sich mit Christa Wolf, der erste davon mit der komplexen Erinnerungsarbeit in ihrem späten Roman Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud, darauf folgt eine Auseinandersetzung mit Ingeborg Bachmanns Erzählung Undine geht. Dann der zweite Beitrag zu Christa Wolf, der ihre Beschäftigung mit realen Frauenfiguren der Romantik in den 1970er Jahren untersucht.
Eingerahmt ist dieser Block von zwei Texten zu Thomas Bernhard. Der erste widmet sich der Erzählung Goethe schtirbt, entstanden parallel zu Wittgensteins Neffe, „ein stark autobiographischer Text, der thematisch in der Wiederkehr des Namens Wittgenstein mit Goethe schtirbt korrespondiert. Wohlmöglich hatte Bernhard während der Arbeit an seinem Freundschaftsbericht Spaß an der Idee gefunden, Goethe und Wittgenstein in einem (nicht zustande kommenden) fiktiven Treffen zu vereinen; ein Gedanke, der skurril und komisch zugleich, Bernhards Humor stark entspricht.“ (S. 47). Solche Formulierungen hinterlassen einen eigenwilligen Eindruck, nicht nur weil dieses „wohlmöglich“ in der Erzählung als Evidenz vorliegt, überhaupt hätte vor allem diesem Beitrag ein strengeres Lektorat sehr gut getan. „Allein“ der Auftakt von Goethe schtirbt mache „deutlich, wie sehr Thomas Bernhard mit der Ironie in diesem Text spielt. Bereits der Titel kündigt dies an, denn in der orthographisch fehlerhaften Schreibweise liegt das Bild des in die Länge gezogenen Sterbens offen da.“ (S. 48) Die Analogie Autor/Dichterfürst liegt natürlich nahe, „tatsächlich glich der Autor Thomas Bernhard in seinem elitären Dichterverständnis dem Selbstbild Goethes erheblich; kurzum, er war sich seines Marktwertes absolut bewusst, was nicht zuletzt die im Laufe der Jahre immer höher steigenden Vorschüsse für seine Bücher belegen.“ (S. 51f.)
2010 präsentierte der Suhrkamp Verlag Bernhards Erzählung Goethe schtirbt im Band gleichen Titels; sie ist 1982 in der „Zeit“ und 2008 in einem der unsäglichen Mixturenbände des Verlages abgedruckt (S. 110) – wie der Autor an anderer Stelle vermerkt, allerdings auch schon 1993 in einem Bernhard-Lesebuch (S. 47). Es sind auch Widersprüchlichkeiten dieser Art, die vermuten lassen, dass hier in unterschiedlichen Kontexten entstandene kleine Aufsätze von sehr differenter Tiefenschärfe zusammengefügt wurden. Der zweite Beitrag zu Thomas Bernhard ist allenfalls ein kurzer feuilletonistischer Kommentar zur – jenseits der verdienstvollen Werkausgabe – eigenwilligen, um nicht zu sagen würdelosen Editionspolitik des Suhrkamp Verlags nach Thomas Bernhards Tod.