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Ich war Europäer

Benno Weiser Varon

// Rezension von Michaela Schmitz

Es leben nur noch zehn Prozent von mir

Palmen auf 3000 Metern Höhe. Eine Hacienda am Äquator. Am Horizont die eingeschneiten Gipfel der Pichincha, Cayambe, der Cotopaxi. Hier schreibt der vierundzwanzigjährige Österreicher an seinen Lebenserinnerungen – auf Spanisch. Ein mehr als kurioses Arrangement, wie es sich nur die Wirklichkeit ausdenken kann. Eine aus den Fugen geratene Realität, die Menschen quer über den Ozean in die Fremde Eccuadors treibt. Und das wenige Monate vor Beendigung des Medizinstudiums. Aber wer fragt schon nach einem Studienabschluss, wenn es kurz nach dem „Anschluss“ der alpenländischen Republik an Hitler-Deutschland für Juden nur noch ums nackte Überleben geht.

An den österreichischen Universitäten hatte der Anschluss schon Jahre vor dem Einmarsch nationalsozialistischer Truppen stattgefunden, so der namenlose Ich-Erzähler des Romans. Nur mit einem Bund riesiger Eisenschlüssel bewaffnet, hatte er es damals gewagt, am ersten Tag seines Studiums das Wiener Universitätsgebäude zu betreten. Antisemitische Schlägertrupps nutzen die traditionell polizeifreie Zone, um Juden schon 1934 vom Studium fernzuhalten und von ihren begehrten Uni-Posten zu vertreiben. So auch am Tag seiner Einschreibung, an dem sich in der Anatomie antifaschistische und jüdische Studenten mit Stuhlbeinen und sogar mit Oberschenkelknochen gegen die systematischen Einschüchterungsversuche der Nazis zur Wehr setzen. Obwohl die Repressionen bis in unfaire Prüfungsmethoden antisemitischer Professoren hineinreichen, kann er sein Studium erfolgreich fortsetzen. Und ihm gelingt es sogar, „am Rande des Kraters“ einfach nur jung und glücklich zu sein, Mädchen zu treffen und in der semesterfreien Zeit quer durch Europa zu reisen – vier lange Jahre scheinbar grenzenloser Freiheit.

Bis zu jenem tragischen Freitag im Frühjahr 1938, an dem Hitlers Truppen in Österreich einmarschieren. Vom einen Tag auf den anderen wird aus dem kosmopolitischen Studenten recht- und besitzloses Freiwild, schutzlos der totalen Willkür nationalsozialistischer Schergen ausgeliefert. Das Studium muss er aufgeben, das väterliche Unternehmen wird beschlagnahmt, die Bewegungsfreiheit wird radikal beschnitten, sein Leben ist akut bedroht. Wie zum Hohn kommt das Frühjahr vorzeitig, die Sonne scheint vom wolkenlosen Himmel auf die nun Hakenkreuz-beflaggte Stadt. Dem sonnigen Frühling folgt ein strahlender Sommer. Den Juden ist der Zutritt zu Parkanlagen, Bädern und Unterhaltungslokalen verboten. Untersagt ist ihnen skurrillerweise auch das Tragen von Dirndln und Lederhosen. In Koffern „schmuggeln“ sie ihre Trachten in die Wohnungen von Freunden und veranstalten dort private Tanzfeste – es ist ein „Tanz unter dem Galgen“. Auf einem Stückchen Dach über einem Meer von Mietshäusern bräunen sie in der Sonne und trotzem dem Nazi-Terror ein kleines bisschen Sommerglück ab. Nie zuvor und niemals danach habe er das Leben so intensiv geliebt wie in jenen Tagen über den Dächern von Wien, wo er seine spätere Frau kennenlernt, so scheint es dem Ich-Erzähler im Rückblick. Das Heroische an ihrer Liebe in jenen bedrohten Zeiten sei gewesen, sich jeden Tag getroffen zu haben.

Als nach einigen Monaten die Judenverfolgung immer systematischer wird, entschließt sich der vierundzwanzigjährige als erster der Familie zur Flucht nach Übersee. Den Angehörigen und seiner Freundin wird es einige Monate später gelingen, gerade noch rechtzeitig ins Exil nach Ecuador zu folgen. Ihm ist bewusst: Sie gehören zum geringeren Teil europäischer Juden, die dem sicheren Tod entkommen. Von den wenigen seiner Freunde, die den Holocaust überleben, bekommt er später Post aus den USA, Argentinien, Südafrika, Russland, Australien oder Indien. Vom Freundeskreis bleibt kaum mehr als eine Briefmarkensammlung. Und vom ihm selbst? Angesichts des Schicksals der Zurückgebliebenen, kalkuliert er zynisch, lebten statistisch gesprochen nur noch zehn Prozent von ihm. Von diesen unausdenkbar großen und unzählbaren kleinen Verlusten handelt sein Exilroman, den er über vier Jahre in Ecuador niederschreibt.

Es ist die Lebensgeschichte des Autors Benno Weiser Varon mit veränderten Namen der Anghörigen und Freunde. Am 30. Januar 1942 erscheint sein Roman zuerst in dreiundfünfzig Folgen in seiner eigenen Wochenzeitung „La Defensa“, 1943 bei Iditorial Fernandez in Quito als einer der frühesten Exilromane neben Klaus Manns Der Vulkan, Lion Feuchtwangers Exil, Erich-Maria Remarques Liebe deinen Nächsten und Anna Seghers‘ Transit. Jetzt ist das Buch erstmals von Reinhard Andress ins Deutsche übersetzt worden. Im Bewusstsein, dass in der Hauptsache von Hitlers gigantischen Greueltaten gesprochen und geschrieben wird, versucht Weiser Varon in seinem Buch Ich war Europäer. Roman einer Generation gerade von den kleinen, doch nicht weniger furchtbaren Verbrechen des Dritten Reichs Zeugnis abzulegen. Denn wer hat schon einmal versucht, all die von Hitler verursachten Abschiede aufzuzeichnen?

Ich war Europäer.
Roman.
Aus dem Spanischen von Reinhard Andress und Egon Schwarz.
Reihe Österreichische Exilbibliothek.
Wien: Picus Verlag, 2008.
257 Seiten, gebunden.
ISBN 978-3-85452-637-7.

Rezension vom 13.11.2008

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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